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Im Brennglas der Alexandertechnik: Der Nobelpreisträger N. Tinbergen über AT


Liebe Marie,

dem Verhaltensforscher Nicholaas Tinbergen wurde 1974 der Nobelpreis verliehen. In seiner Rede aus Anlass der Verleihung hat er u. a. folgendes gesagt: "Viele von uns waren sehr überrascht von der doch unkonventionellen Entscheidung der Nobel-Stiftung, den diesjährigen Nobelpreis 'für Physiologie und Medizin' an drei Männer zu verleihen, die bis vor kurzem noch als 'bloße Beobachter von Tieren' eingestuft worden sind. Da zumindest Konrad Lorenz und ich nicht wirklich als Physiologen zu betrachten sind, müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass unsere SCIENTIA AMABILIS jetzt als ein integraler Bestandteil des äußerst praktischen Feldes der Medizin anerkannt wird. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, heute zwei konkrete Beispiele zu diskutieren, wie die alte Methode des Beobachtens und des Staunens über Verhalten, die wir eigentlich nur wiederbelebt und nicht ersonnen haben, wie diese Methode dazu beitragen kann, das Leiden der Menschen zu lindern, insbesondere das Stress bedingte Leiden. Dies zu tun, scheint mir sehr gut in eine Stadt zu passen, die bereits jetzt einen ausgezeichneten Namen hat, was die wichtige Arbeit zu psycho-sozialen und psycho-somatischen Erkrankungen betrifft.


Mein erstes Beispiel bezieht sich auf neue Fakten und Sichtweisen zur Natur von dem, was heute allgemein 'frühkindlicher Autismus' genannt wird. (.................................................................................)


Mein zweites Beispiel dazu, wie nützlich ein ethologischer Zugang zur Medizin sein kann, hat eine ganz andere Geschichte. Es bezieht sich auf die Arbeit eines äußerst bemerkenswerten Mannes, des späten F. M. Alexander. Er begann mit seinen Forschungen ungefähr fünfzig Jahren vor dem Wiederaufleben der Verhaltensforschung, für die wir jetzt geehrt werden. Seine Vorgehensweise war schon damals den modernen Beobachtungsmethoden sehr ähnlich. Wir sind der festen Überzeugung, dass seine Errungenschaften und die seiner Schüler es verdienen, näher beleuchtet zu werden.


Alexander, 1869 in Tasmanien geboren, war in seinen jungen Jahren ein Rezitator sowohl humoriger als auch dramatischer Stücke. Sehr bald jedoch entwickelte er so schwere stimmliche Probleme, dass er nahe daran war, seine Stimme vollständig zu verlieren. Kein Arzt konnte ihm helfen. Also nahm er die Dinge selbst in die Hand. Er fing an, sich vor dem Spiegel zu beobachten. So bemerkte er, dass seine Stimme dann am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogen wurde, wenn er Positionen einnahm, die sich für ihn beim Rezitieren als geeignet und 'richtig' anfühlten. Ohne Hilfe von außen arbeitete er in etlichen qualvollen Jahren heraus, wie das zu verbessern ist, was heute 'Gebrauch' genannt wird, wenn davon die Rede ist, die Körpermuskulatur bei allen Bewegungen und in allen Positionen einzusetzen. Zudem stellte sich als ein bemerkenswertes Ergebnis heraus, dass er auch die Kontrolle über seine Stimme wiedererlangt hatte. Diese Geschichte über Wahrnehmungsvermögen, Intelligenz und Durchhaltevermögen mit einem Mann in der Hauptrolle, der keinerlei medizinische Ausbildung genossen hatte, ist eines der wahren Epen medizinischer Forschung und Praxis.


Nachdem sich Alexander erst einmal über den Fehlgebrauch seines eigenen Körpers bewusst geworden war, fing er an, auch seine Mitmenschen zu beobachten, und stellte fest, dass die Mehrzahl der Menschen, zumindest in der modernen westlichen Gesellschaft, in einer ähnlich fehlerhaften Weise stehen, sitzen und sich bewegen.


Ermutigt durch einen Arzt in Sydney wurde er jetzt zu einr Art Missionar und machte sich daran, Schauspieler, später dann auch eine Vielzahl unterschiedlicher Menschen darin zu unterweisen, wie sie wieder zu einem angemessenen Gebrauch ihrer Muskulatur gelangen konnten. Nach und nach kam er dahinter, dass er auf diesem Weg bei einer erstaunlichen Vielzahl somatischer und mentaler Krankheiten Linderung verschaffen konnte. Und darüber hat er auch gründlich Buch geführt. Zu guter Letzt brachte er einer Reihe seiner Schüler bei, selbst Lehrer zu werden und bei ihren Patienten dieselben Resultate zu erzielen, wie er selbst sie erzielt hatte. Es hatte zwar Jahre gedauert, die Technik so auszuarbeiten, dass er sie auf seinen eigenen Körper anwenden konnte. Ein erfolgreicher Kurs war und ist jedoch nur eine Sache von Monaten. Allerdings nimmt die Ausbildung zu einem guten Alexandertechniklehrer einige Jahre in Anspruch.


Viele Jahre lang hat eine kleine, aber begabte Anzahl seiner Schüler seine Arbeit fortgeführt. (...........................) Meine Frau, eine unserer Töchter und ich wollten die Probe aufs Exampel machen. So entschlossen wir uns, uns selbst einer Behandlung zu unterziehen. Zudem wollten wir die Gelegenheit nutzen, um die Wirkung dieser Technik so kritisch wie möglich zu beobachten. Aus naheliegenden Gründen suchte deshalb jeder von uns einen anderen Alexandertechniklehrer auf.


Uns wurde klar, dass die Basis der Therapie außergewöhnlich sorgfältige Beobachtungen waren, nicht nur visueller Art, sondern in überraschendem Ausmaß auch durch den Einsatz des Tastsinnes. Im Wesentlichen besteht die Therapie aus einer nur sehr sanften Manipulation des gesamten Muskelsystems, zunächst zur Erkundung, später dann auch zur Korrektur. Die Manipulation beginnt an Kopf und Hals. Dann werden auch die Schultern und der Brustkorb und schließlich das Becken, die Beine und die Füße mit einbezogen, bis zum Schluss der gesamte Körper untersucht und behandelt wird. Wie auch bei unserer eigenen Beobachtung von Kindern überwacht der Therapeut fortlaufend den Körper und passt sein Vorgehen die ganze Zeit über den Gegebenheiten an. Was tatsächlich getan wird, unterscheidet sich von Patient zu Patient, je nachdem welche Art von Fehlgebrauch die diagnostische Erkundung offenbart hat. Und natürlich wirkt die Therapie bei verschiedenen Menschen auf unterschiedliche Weise. Aber zwischen uns dreien, meiner Frau, meiner Tochter und mir, bemerken wir jetzt schon mit zunehmender Verwunderung äußerst auffällige Verbesserungen bei so verschiedenen Dingen wie Atmung, Bluthochdruck, Tiefe des Schlafes, allgemeiner Fröhlichkeit und geistiger Regheit, Widerstandskraft gegen äußeren Druck und sogar auch bei einer so speziellen Fertigkeit wie dem Spielen eines Saiteninstrumentes. Aus persönlicher Erfahrung können wir also schon jetzt einige der nur scheinbar der Phantasie entsprungenen Behauptungen bestätigen, die von Alexander und seinen Nachfolgern gemacht worden sind. Insbesondere können viele Arten von Leistungsschwäche und sogar von Krankheit, sowohl geistiger als auch körperlicher Natur und manchmal in einem Ausmaß, das überrascht, dadurch gelindert werden können, dass der Körpermuskulatur beigebracht wird, anders zu funktionieren. (...........................)


Es bleibt aber weiterhin eine offene Frage, wo genau in diesem komplexen Mechanismus unter dem Einfluss beständigen Fehlgebrauchs das Zusammenspiel gestört wird. Aber die moderne Verhaltensforschung neigt mit Alexander und Barlow zu der Ansicht, Fehlgebrauch eher phenotypischen als genetischen Ursachen als Grund anzulasten. Es ist doch wohl höchst unwahrscheinlich, dass die Hominiden in der langen Evolutionsgeschichte des Aufrecht-Gehens nicht ausreichend Zeit gehabt hätten, die korrekten Mechanismen für eine Fortbewegung auf nur zwei Beinen zu entwickeln. Diese Schlussfolgerung wird noch durch die überraschende, aber nicht in Zweifel zu ziehende Tatsache erhärtet, dass der eigene Körper als Resultat einer kurzen Serie von halbstündigen Sitzungen selbst nach 40 oder 50 Jahren ganz offensichtlichen Fehlgberauchs sozusagen 'zurückschnappen' kann in einen richtigen und unter mancherlei Gesichtspunkten gesünderen Gebrauch. Positionen und Bewegungen, die richtig sind, sind ganz offensichtlich genetisch sehr alte und Umwelt resistente Verhaltensweisen. Deshalb ist Fehlgebrauch mit all seinen psycho-somatischen, vielleicht sollte man genauer sagen, mit seinen somato-psychischen Konsequenzen auch als ein Ergebnis der modernen Lebensbedingungen zu betrachten - als kultureller Stress. Ich möchte noch hinzufügen, dass ich nicht nur an das allzu viele Sitzen denke, sondern genauso an die zusammengekauerte Haltung, die jemand einnimmt, wenn er sich einer Sache nicht gewachsen oder sich unsicher fühlt.


Und auch ein zweiter Punkt darf niemanden wirklich überraschen: Allein schon die sanfte Berührung der Körpermuskeln hat nachhaltige Auswirkungen sowohl auf den Körper als auch auf den Geist. Je mehr nämlich über psycho-somatische Erkrankungen und über die extrem komplexe Wechselwirkung zwische Gehirn und dem Rest des Körpers entdeckt worden ist und noch wird, umso offensichtlicher ist es, dass eine rigide Unterscheidung zwischen 'Geist' und 'Körper' nur von begrenztem Nutzen für die medizinische Forschung, ja sogar ein Hindernis für ihren Fortschritt sein kann.


Ein dritter biologisch interessanter Aspekt der Alexandertechnik zeigt sich hierin: Jede Sitzung demonstriert klar und deutlich, dass die zahllosen Muskeln des Körpers beständig als ein fein abgestimmtes Netzwerk zusammenarbeiten: Wann immer sanfter Druck ausgeübt wird, um z. B. eine leichte Veränderung in der Position eines Beines zu bewirken, reagieren auf der Stelle die Halsmuskeln. Umgekehrt, wenn der Therapeut jemandem Hilfestellung dabei leistet, die Halsmuskeln 'loszulassen', sind erstaunlicherweise z. B. auch ziemlich deutliche Bewegungen der Zehen zu erkennen, auch wenn die betreffende Person auf der Couch liegt.


In diesem kurzen Abriss kann ich nicht mehr tun, als die Behandlung mit der Alexandertechnik als eine äußerst anspruchsvolle Form der Rehabilitation zu charakterisieren und als solche zu empfehlen, bei der der gesamte Muskelapparat und mit ihm viele der anderen Organe wieder zum richtigen Einsatz gebracht werden. Im Vergleich dazu, machen viele der Physiotherapien, die derzeit im Einsatz sind, einen in ihrer Wirkung überraschend groben und beschränkten Eindruck und manchmal sind sie sogar schädlich für den übrigen Körper. (..........................)"


Dies, liebe Marie, würde F. M. Alexander wohl zunächst einmal unkommentiert stehen lassen wollen.


Bis bald

Dein Großvater


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