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IM BRENNGLAS DER ALEXANDERTECHNIK: Fitnesstraining


Liebe Marie,

seit längerem schon boomt die Fitnessbranche. Nach langen Stunden des Sitzens im Büro oder zuhause vor den Bildschirmen haben die Leute einfach ein starkes Bewegungsbedürfnis. Und weil so viele Menschen jeden Alters, vom Bodybuilder bis zur Rentnerin, in die 'Muckibuden' strömen, sind die Fitnessstudios auch zu Kontaktbörsen geworden. Aber wissen die Trainierenden an den Fitnessgeräten eigentlich wirklich, was sie tun? Haben sie eine Ahnung davon, "welche Übungen und Bewegungsmuster besondere Risiken tragen oder welche Körperstellen am häufigsten von Verletzungen betroffen sind?" Diese Fragen werden in einem Artikel der Westfälischen Rundschau vom 27.Januar 2022 gestellt. Offensichtlich nicht. Der Fitnessboom gehe nämlich auch mit einer wachsenden Zahl von Verletzungen einher, heißt es dort weiter. Deshalb wolle eine Forscherteam des Bochumer Universitätsklinikums Bergmannsheil herausfinden,

  • ob es Fitnessübungen gibt, die grundsätzlich schlecht sind (ihre Hypothese dazu lautet, dass dies nicht der Fall ist);

  • ob die Fitnessübungen nur dann Probleme bereiten, wenn sie falsch ausgeführt werden;

  • ob 'geführte Bewegungen' weniger riskant sind als ein Freihantel-Training und vieles andere mehr.

F. M. Alexander beschreibt in seinem Buch "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert", der Erstübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE den fiktiven Fall des John Doe, der endlich etwas für seine Gesundheit tun wollte: "Nun hatte es John Doe jedoch schon allzu lange aufgeschoben, seine gesundheitliche Lage zu verbessern. Schließlich meldete er sich doch zum Fitnesstraining an. Seine Zeit war zwar äußerst begrenzt, aber er opferte ein oder zwei Stunden morgens und abends dafür. Zunächst wird er vielleicht sagen können, dass er sich nahezu wie neugeboren fühlt. Er wird wahrscheinlich sogar Freunden, die er in der Stadt trifft, empfehlen, ihm nachzueifern. Ich bin sogar willens zuzugeben, dass John Doe tatsächlich davon profitiert. Und ich gehe noch einen Schritt weiter und gestehe auch die Möglichkeit ein, dass er nicht in denselben psychischen Zustand zurückfällt, in dem er ursprünglich gewesen ist, allerdings nur wenn er sein Übungsprogramm nicht abbricht. Aber dies möchte ich an dieser Stelle sehr deutlich feststellen: Seine Heilung trägt nicht das Element der Dauerhaftigkeit in sich. Es ist nur ein Pfuschen und Stümpern an der Struktur seines Körpers. Wenn wir nämlich den Fall von einem neutralen Standpunkt aus betrachten, müssen wir erkennen, dass John Doe versucht hat, zwei Lebenssysteme oder Lebensweisen miteinander zu vereinbaren, die von der Natur der Sache her gar nicht harmonisch zusammenarbeiten können. Zum einen ist er zwei, drei oder vier Stunden am Tag damit beschäftigt, seinen Muskelapparat mechanisch aufzubauen, wobei ihn allerdings gar nicht die Art und Weise interessiert, wie er dabei den Apparat benutzt; dass er dabei die Blutzufuhr anregt und beschleunigt; dass deshalb eine erhöhte Sauerstoffzufuhr notwendig ist oder dass seine Lungenkraft gestärkt werden muss. Kurzum trainiert er Funktionen und Energiequellen, die untrainiert während des größten Teils seines Lebens im Wachzustand allein die Aufgabe haben, ihn mit Lebensmitteln zu versorgen. Andererseits werden die neu entwickelten Kräfte in den übrigen zwölf Stunden wieder vernachlässigt. Wenn er sich seinem Beruf widmet, wenn er isst oder ein Buch liest, wenn er sich mit Gesellschaftsspielen vergnügt oder ähnlichen Beschäftigungen nachgeht, sind wieder seine alten Kontrollzentren und Nervenbahnen angeregt. Im Körper von John Doe gibt es also neben dem natürlichen Zustand des Schlafes noch zwei weitere Existenzen: die eine muskulär, streng aktiv, dynamisch, die andere sitzend, statisch, nervös. Diese beiden Existenzen korrelieren aber nicht miteinander. Sie sind Gegenspieler. Sie unterstützen sich nicht gegenseitig. Sie sind im Streit miteinander. Der Körper von John Doe wird so zu einer Bühne für einen Bürgerkrieg. Sein Herz, seine Lungen und andere seiner Organe, die halb-automatisch arbeiten, befinden sich im Zustand ständiger Neujustierung, wenn sie sich an die widersprüchlichen Bedingungen anpassen sollen und wenn die Organe gezwungen sind, jeweils die eine oder andere Seite in diesem ständigen Kampf zu unterstützen. Ein solcher Zustand kann John Doe und die Menschheit als Ganzes auf lange Sicht wahrlich nicht verbessern. Wie später noch zu zeigen sein wird, bleibt im Falle von John Doe und in allen ähnlich gelagerten Fällen das Bewusstsein der jeweiligen Person in Bezug auf den Gebrauch der Muskelmechanismen vollkommen unverändert. Auch wenn John Doe täglich sechs Stunden und mehr trainieren würde, würde er auf der Stelle erneut in die alten Muskelgewohnheiten zurückfallen, die er bei seinen normalen Beschäftigungen immer schon eingesetzt hat, wenn er diese wieder aufnimmt. Denn eines steht fest: John Doe hat eine falsche Geisteshaltung, was die Art und Weise betrifft, wie seine Muskelmechanismen bei den Tätigkeiten des täglichen Lebens zu gebrauchen sind. Schon lange hat er Muskeln eingesetzt, um Arbeiten zu verrichten, für die sie niemals gedacht waren. Auf der anderen Seite blieben Muskeln unterentwickelt, reglos und ungenau kontrolliert, die eigentlich pausenlos benutzt werden sollten. Man könnte sagen, dass John Doe, was die Gebrauchsweisen seines Körpers angeht, tatsächlich Geistes- und Körpertäuschungen erlegen ist. Ich will hier nur ein Beispiel von vielen erwähnen. Es zeigt seine Unfähigkeit, die richtigen Funktionen und Gebrauchsweisen seines Muskelsystems überhaupt wahrzunehmen: Wenn er seinen Kopf nach vorne führt oder wenn er ihn zurücknimmt, machen seine Schultern grundsätzlich eine Bewegung in diese gleiche Richtung. Und diese Mitbewegung ist vollkommen unbewusst. John Doe weiß gar nicht, dass er dabei seine Schultern bewegt. In diesem Zustand geistiger und körperlicher Täuschung versucht nun dieser unglückliche Mann mit den Mechanismen, die er gar nicht unter seiner Kontrolle hat, etwas zu tun, in der vagen Hoffnung er könne seinen Körper durch bloße Ausübung bestimmter Körperübungen wieder in einen Zustand perfekter Körpergesundheit bringen."


Wenn nicht durch ein Fitnesstraining, wie sonst kann John Doe verhindern, dass er zurückfällt "in seine alten Muskelgewohnheiten", dass er "Geistes- und Körpertäuschungen" erliegt und dass sein Fitnesstraining ihm auf lange Sicht eher schadet, als dass er davon profitiert? Mit solchen Fragen und der Frage, ob sich der Trainierende selbst bei der Ausführung der Übungen grundsätzlich falsch gebraucht, beschäftigt sich das Forscherteam des Bochumer Universitätsklinikum Bergmannsheil aber nicht. Für F. M. Alexander sind diese Fragen jedoch die alles entscheidenden und er hat auch Antworten darauf gefunden:

  • In einem ersten Schritt ist John Doe von seinen Sinnestäuschungen zu befreien, die ihn erst dazu gebracht haben, "dass er seine Schultern bewegt", ohne es überhaupt wahrzunehmen.

  • Der Gebrauch der Muskelmechanismen ist so zu verändern, dass er zur Grundlage für ein bestmögliches Arbeiten aller Systeme, Mechanismen und Funktionen des menschlichen Organismus wird.

  • Die Körpermechanismen sind unter eine bewusste Steuerung und Kontrolle zu bringen.

Um einen Menschen von seinen Sinnestäuschungen zu befreien, vermittelt der Alexandertechniklehrer seinem Schüler die neuen, jetzt aber zuverlässigen sinnlichen Erfahrungen mit seinen Händen: Er führt ihn so durch eine Bewegung wie es das Sich-Hinsetzen und das Wiederaufstehen oder das Heben der Arme sind, um mit den Händen eine Stuhllehne zu umfassen, und er hält den Schüler dabei an, ihn nicht zu unterstützen, aber auch sich nicht festzumachen. Die neuen Sinneseindrücke gelangen allerdings in aller Regel nicht von heute auf morgen ins Bewusstsein eines Schülers: Er ist nämlch zunächst vor allem viel zu sehr damit beschäftigt ist, alles richtig machen zu wollen, als dass er offen für neue sinnliche Erfahrungen wäre.


Um einen neuen Gebrauch einrichten zu können, ist es unabdingbar, dass der bisherige gewohnte Gebrauch unterdrückt wird - gehemmt wird, wie es in der Sprache der Alexandertechnik heißt -, der ja erst zu all den Problemen geführt hat, die z. B. John Doe veranlasst hatten, ins Fitnessstudio zu gehen. Die Hemmung der allerersten Reaktion auf einen Reiz ist die Grundvoraussetzung für jegliche Veränderung hin zu einem Gebrauch, der das natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken nicht länger stört. Und mit der sich unter den Händen des Alxandertechniklehrers allmählich entwickelnden kinästhetischen Wahrnehmung, mit der wahrgenommen werden kann, wo sich die einzelnen Teile des Körpers gerade befinden und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, kann der Schüler schießlich auch spüren, wenn er in dieses Verhältnis schädigend eingreift.


Im einem nächsten Schritt wird der Schüler befähigt, das eventuell verloren gegangene natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken selbst wiederherzustellen. Mit den mit der Alexandertechnik erarbeiteten Mitteln der Hemmung, einer zuverlässigen sinnlichen Wahrnehmung und den Steuerungsbefehlen zur Primärkontrolle dieses natürlichen Verhältnisses lernt der Schüler schließlich mehr und mehr, dieses Verhältnis bewusst zu steuern und zu kontrollieren.


Mit der Alexandertechnik wird ein lebenslanger Prozess angestoßen, durch den im Zuge einer immer noch verfeinerten kinästhetischen Wahrnehmung die Steuerung und Kontrolle aller Mechanismen, Systeme und Funkionen im menschlichen Organismus immer genauer und feiner werden. Wenn dieser Prozess zum Erliegen kommt, fallen wir augenblicklich in unsere alten unterbewussten Verhaltensweisen zurück, die uns ja nicht gut getan haben, wie wir aus eigener Erfahrung wissen.


Bis bald

Dein Großvater


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