top of page
Empfohlene Einträge

Im Brennglas der Alexandertechnik: Die Langeweile


Liebe Marie,

in Louis Malles Film 'My Dinner With Andre' (1981) heißt es in einem längeren Monolog: "O.K. Ich gebe es zu: Uns ist langweilig. Wir alle sind in diesen Zeiten gelangweilt. Aber ist es Dir, Wally, jemals in den Sinn gekommen, dass dieser Prozess, der die Langeweile jetzt in die Welt bringt, eine unterbewusste Form von einer sich selbst beschleunigenden Gehirnwäsche sein könnte, die sich eine totalitäre Weltregierung des Geldes ausgedacht hat und die gefährlicher ist, als man es sich vorstellen kann? Ist es nicht eine Frage von Leben und Tod, Wally? Ist nicht jemand, der gelangweilt ist, schläfrig und wird jemand, der schläfrig ist, jemals NEIN! sagen wollen?"


Wer nicht mehr 'nein' sagen kann, Marie, wird zu einem bloßen Ja-Sager und so zu einem Spielball der manipulativen Kräfte in dieser Welt. Tatsächlich verliert er einen Großteil seiner Freiheit, die sich daraus speist, eigene Entscheidungen treffen zu können. Ein Entscheidungsprozess muss nämlich zwangsläufig mit einem Nein beginnen, auch dann oder gerade dann, wenn man sich seiner Sache schon sehr sicher ist. (Spinoza: "Jede Entscheidung ist Verneinung.") Dann kommen Verstand und Überlegung ins Spiel. Erst das Nachdenken führt dann zu der Entscheidung, die ein Ja oder ein Nein sein kann. Auf diese Weise erhält man sich seine ganz persönliche Freiheit des Handelns und im Handeln.


Der mündige Bürger, befähigt nein zu sagen, ist jedoch nicht im Interesse einer Gesellschaft, in der das Primat der Wirtschaft herrscht und die rücksichtslos und unter allen Umständen auf ein Wirtschaftswachstum setzt. In einer solchen Gesellschaft soll der Mensch nicht seinen Verstand gebrauchen und nachdenken - er soll konsumieren, konsumieren, konsumieren. Und auch ein lautstarkes Nein zu den Machenschaften der Mächtigen in Politik und Wirtschaft wissen die gesellschaftlichen Kräfte allzu gut durch mancherlei Ablenkungsmanöver zu verhindern: In Funk und Fernsehen werden die Menschen mindestens stündlich mit Sensations- und Katastrophenmeldungen aus aller Welt versorgt; Gameshows wie 'DSDS', 'The Voice Kids' oder 'Dschungelcamp' und Talksshows, in denen andere ihre Gedanken ausbreiten und ihre Ansichten vertreten, halten den Fernsehzuschauer vom selbständigen Denken ab (einen Gedanken von einem anderen zu übernehmen, mag er noch so richtig sein, ist etwas völlig anderes, als denselben Gedanken selbst entwickelt zu haben); und der Wunsch nach Urlaub in fernen Ländern, der beständig mit Reiseberichten geschürt wird, ist auch ein sehr wirksames Mittel, um die Menschen abzulenken.


Demgegenüber ist Nein-sagen in der Alexandertechnik ein ganz wesentlicher Programmpunkt. "All jene, die sich selbst verändern wollen, müssen lernen, sich eines zum Lebensprinzip zu machen: Die unmittelbare Reaktion auf jeglichen Stimulus, ein gewünschtes Ziel zu erreichen, ist zu hemmen. Erst die Hemmung der unmittelbaren Reaktion gibt ihnen die Gelegenheit, es abzulehnen - nein zu sagen also -, zur Erreichung ihres Zieles in die ihnen wohl vertraute Erfahrungswelt mit ihrem alten gewohnheitsmäßigen Gebrauch zurückzufallen." Dies schreibt F. M. Alexander in "Der Gebrauch des Selbst" (BooksonDemand, 2021), der deutschen Neuübersetzung von THE USE OF THE SELF. Und so ist man allein schon mit dem Nein-sagen so gut beschäftigt, um seinen vorherigen fehlerhaften Gebrauch zu unterdrücken, dass Langeweile wahrlich keine Chance hat.


Mit dem Nein-sagen ist es aber bei Weitem noch nicht getan, will man mit der Alexandertechnik zu einer Veränderung seines bisher gewohnten, fehlerhaften Gebrauchs kommen. Ganz allmählich verändert sich unter den Händen eines Alexandertechniklehrers auch die sinnliche Wahrnehmung des Einzelnen, so dass er mehr und mehr selbst wahrnimmt, wenn er das natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken stört. Und als ein dritter Bereich lassen die Selbstbefehle zur Primärkontrolle die in der Alexandertechnik geschulten Menschen nicht zu Opfern von Langeweile werden: Lass den Hals frei / Kopf nach vorne und oben / Wirbelsäule lang / Rücken weiten. Diese Befehle bilden einen nahezu ununterbrochenen Strom von mentalen Impulsen an den eigenen Organismus. So wird durch das fortlaufende Checken des eigenen Gebrauchs und das fortlaufende Erteilen der Selbstbefehle zur Primärkontrolle der Langeweile ein weiterer Riegel vorgeschoben. Alexandertechnik ist nicht nur ein System, mit dem Gesundheit, Wohlergehen und ein zufriedenstellendes Funktionsniveau erlangt werden können, sie bildet auch ein starkes Bollwerk gegen eine Vereinnahmung durch die Macht des Geldes.


Zum Abschluss dieses Beitrags, liebe Marie, noch einige Worte aus Joachim Bauers 'Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens' (Blessing Verlag, 2015): Viele der schwer Erkrankten "fühlen sich in einer von ihnen bisher nicht erlebten Weise von der Öde eines einseitig konsumorientierten Lebens abgestoßen. (Sie scheinen sich) sensibilisiert zu haben für den Konformismus und die Langeweile unseres Alltags."

Bis bald

Dein Großvater


Aktuelle Einträge
Archiv
Schlagwörter
Folgen Sie uns!
  • Facebook Basic Square
  • Twitter Basic Square
  • Google+ Basic Square
bottom of page