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Im Brennglas der Alexandertechnik: Angstreflexe


Liebe Marie,

Lawrence Smith arbeitet als Alexandertechniklehrer in Montreal, wo er an der Universität Quebec und an der McGill University Tänzer und Musiker unterrichtet. Der Abschnitt, den ich im Folgenden aus dem Englischen ins Deutsche übersetze, ist Teil aus Lawrenence Smiths Blogbeitrag 'Breathing und The Alexander Technique' (Atmung und die Alexandertechnik).

"Als Kinder tun wir dies (gemeint ist der Einsatz der kleinen Streckmuskeln der Wirbelsäule) von Natur aus. Und auch in den Kulturen der Naturvölker ist diese Verhaltensweise noch zu sehen. Was läuft also gerade schief mit uns? Aus mancherlei Gründen neigen wir dazu, uns unter Stress zusammen- und Arme und Beine einzuziehen. Dies ist schon bei Schulkindern zu beobachten, wenn sie das Schreiben erlernen. Oftmals kauern sie über ihrer Schulbank und halten ihre Stifte verkrampft mit viel zu viel Kraft. Darin zeigt sich, dass der Greifreflex zu sehr stimuliert ist. Greifreflex, Schreckreflex, Moro-Reflex (Klammerreflex) - wir werden mit Reflexen geboren, die uns veranlassen, uns zusammenzuziehen, wenn wir eine Bedrohung wahrnehmen: Die Hände greifen (nach einem Halt), die Arme werden heran-, die Zehen hoch-und die Beine eingezogen. Der Rumpf verbiegt sich. Dieses Verhaltenmuster ist durchaus nützlich, wenn ein Kind davor bewahrt werden soll zu fallen. Das Kind klammert sich bei Gefahr eng an die Mutter. (wir sehen dies heute noch bei den Menschenaffen: Das Junge klammert sich an das Muttertier und die Mutter hat die Arme frei, um einem Fressfeind zu entkommen.) Ein Kind, das befürchtet, eine Aufgabe nicht gut bewältigen zu können - das Schreibenlernen ist ein solches Beispiel - wird dieselben Handlungsmuster des Zusammenziehens zeigen. Zu diesem Muster gehört auch die isometrische Kontraktion der Muskeln, die die Arme mit dem Hals, der Wirbelsäule und dem Brustkorb verbinden. Die wiederholte Stimulation dieser Angstreaktionen führt schließlich zu einer dauerhaften Kontraktion der großen Muskeln von Armen und Beinen und dazu, dass eine Streckung der Wirbelsäule durch die Kette der kleinen Streckmuskeln der Wirbelsäule verhindert wird. Dies ist heute bereits bei den meisten Erwachsenen zu sehen - Gib einem Menschen ein Messer in die Hand und lasse ihn auf einem Schneidebrett Karotten schnippeln: Er wird sich dabei krumm machen. Die Vorstellung (das Gefühl) ist weitverbreitet, man müsse sich zusammenziehen, um eine Bewegung zu kontrollieren. Auch bei Tätigkeiten, bei denen man 'sorgfältig' zu Werke gehen muss, sehen wir dieses Verhaltensmuster - wenn wir z. B. ein feines Detail zeichnen. Machen Sie sich krumm, wenn Sie dies tun?

Wenn solch eine isometrische Kontraktion der Muskeln im Schulter- und Halsbereich beständig vorhanden ist, können die Streckmuskeln der Wirbelsäule zu Beginn der Einatmung auch nicht arbeiten. Deshalb werden sich die großen Muskeln, die an der Ausatmung beteiligt sind, zusammenziehen und den Rumpf noch mehr zusammendrücken. Ein Zwerchfell, das keine Unterstützung durch die Wirbelsäule erhält, wird nach unten wandern, anstatt die Rippen zu heben. Es wird die Rippen tatsächlich zusammenziehen, während es sich gleichzeitig abflacht und die inneren Organe verschiebt. Bauchatmung oder Zwerchfellatmung ist dafür ein Beispiel. Es ist zwar möglich, auf diese Weise eine gewisse Bewegung der unteren Rippen zu erreichen, aber Bauchatmung verlangt mehr Anstrengung und wird niemals die Bewegungsamplitude erzeugen, die man erhalten kann, wenn der Hals frei ist und es dem Rumpf erlaubt ist, sich bei der Einatmung zu längen."

Lawrence Smith bescheibt hier die Auswirkungen der Einziehreflexe auf die Atmung. Tatsächlich haben diese Reflexe negative Auswirkungungen auf alle unsere Tätigkeiten. Die Situationen, in denen diese 'Angstreflexe' des Zusammensziehens aktiviert werden, haben tatsächlich im Laufe der Zivilisationsentwicklung rapide zugenommen, weil dem Einzelnen in dieser schnelllebigen Epoche nicht die nötige Zeit gelassen wird, sich an die beständigen Veränderungen - an das Neue, das Unbekannte, das Nicht-Vertraute - anzupassen. Folglich sind sehr viele der neuen Situationen zunächst einmal mit Angst besetzt und rufen die Angstreflexe auf den Plan. Jetzt gerade, da ich diesen Text eintippe, laufe ich Gefahr, Opfer dieser Reflexe zu werden. Ich neige dazu, mich unterbewusst zur Tastatur und zum Bildschirm hinzuziehen, ziehe dabei Arme und Beine ein, ziehe ggf. auch die Zehen ein und hoch, verkürze die Wirbelsäule und mache den Rücken eng. Es gibt in der Tat nur die eine Chance, diesem Verhaltensmuster zu entgehen: Ich muss anstelle einer unterbewussten Steuerung und Kontrolle meines Gebrauchs der Mechanismen eine bewusste Steuerung und Kontrolle verwenden.

F. M. Alexander hat in langen Selbstversuchen eine Technik entwickelt, mit der eine solche bewusste Steuerung und Kontrolle zu erlangen ist. Dazu ist es notwendig, dass der Betroffene zunächst einmal Antennen dafür entwickelt, um wahrzunehmen, dass und ob er sich gerade reflexartig zusammenzieht. Dann ist diese falsche Reaktion auf den Stimulus, auf der Tastatur schreiben zu wollen, zu hemmen, um gleichzeitig mit den entsprechenden Steuerungsbefehlen dafür zu sorgen, dass er nicht Arme und Beine einzieht, die Zehen hoch- und einzieht, den Rumpf verbiegt, die Finger krallt und vor allem nicht länger in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreift. Mit einer bewussten Steuerung und Kontrolle schlagen wir einen indirekten Weg ein, auf dem die Mittel-und-Wege bei allem, was wir tun, zu bedenken sind.

F. M. Alexander fasst seine Technik in THE USE OF THE SELF - eine Neuübersetzung wird zum Ende des Jahres unter dem wohl bekannten deutschen Titel "Der Gebrauch des Selbst" bei BooksonDemand erscheinen - mit den folgenden Worten zusammen: "Um dieser Schwierigkeit (der instinktiven Reaktion) zu begegnen, würde ich in diesem Fall die Technik anwenden, für die ich eintrete. Man kann mit ihr in der Tat eine bewusste Steuerung des Gebrauchs aufgebauen. Der Einsatz der Technik macht es erforderlich, die instinktive Reaktion zu hemmen und durch rationale Prozesse zu ersetzten. Zudem habe ich herausgefunden, dass meine Schüler bei dem Prozess, eine bewusste Steuerung ihres Gebrauchs zu erlangen, allmählich auch ein höheres Niveau sinnlicher Bewusstheit oder sinnlicher Wahrnehmung von dem entwickeln, was sie tun, wenn sie Gebrauch von sich selbst machen."

Mit Hilfe eines Alexandertechniklehrers kann jeder diese Technik erlernen, um sich auf den lebenslangen Weg zu begeben, auf dem man nach und nach lernt, immer mehr Mechanismen, Funktionen und Systeme des Organismus und auch die Relflextätigkeit bewusst zu steuern und zu kontrollieren.

In diesem Zusammenhang noch ein Letztes, liebe Marie: Mit dem Greifreflex kann vielleicht auch erklärt werden, warum so viele heutzutage sich gezwungen sehen, irgendetwas in der Hand zu halten, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen: Die Zigarrette, das Smartphone, die Dose, Bierflasche, der Kaffeebecher in der Hand sind Ausdruck einer allgemeinen, diffusen Angst, die über den Greifreflex kompensiert werden soll. Wie hat Konstantin Wecker schon zu Zeiten der 68er-Generation getextet?

"Die Angst ist die Flamme unserer Zeit

und sie wird reichlich geschürt."

Vom Schüren der Angst können wir wahrlich heute ein Lied singen!

Bis bald

Dein Großvater

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