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Im Brennglas der Alexandertechnik: Medizinische Diagnostik


Liebe Marie,

ist das nicht gemein? Eine damals 67-jährige Frau war aus gesundheitlichen Gründen in einer Tagesklinik. Dort fiel bei einer Untersuchung auf, dass sie erste Anzeichen einer Frühdemenz aufweise. Ihre Gedächtnisleistung, ihr Konzentrationsvermögen und ihre Orientierungsfähigkeit würden nachlassen. Der untersuchende Arzt hatte ihr gesagt, dass "es morgen passieren kann oder in 20 Jahren". So kann man es in der Westfälischen Rundschau vom 1. August 2020 nachlesen. Und ist es nicht blanker Hohn, jemandem in einer Diagnose vorauszusagen, dass sich vielleicht erst in 20 Jahren die Demenz voll ausprägt, um ihm dann zu raten, "im Hier und Jetzt zu leben"?

Eine solche Diagnose wird noch sehr viel fragwürdiger, wenn man berücksichtigt, was F. M. Alexander über die Diagnosen der Ärzteschaft allgemein geschrieben hat. In "Der Gebrauch des Selbst" heißt es dazu: "Der Lehrplan in der medizinischen Ausbildung sieht nicht vor, dass die angehenden Mediziner Kenntnisse darüber erwerben, wie der Gebrauch der menschlichen Organismen zu steuern ist. Und so erkennt (der fertige Arzt) auch nicht den den Zusammenhang zwischen einer Fehlsteuerung des Gebrauchs und dem unzureichenden Funktionsniveau, der immer bei Krankheit anzutreffen ist. All seine Schlussfolgerungen basieren auf Prämissen, die unvollständig sind. Sowohl auf dem Feld der Prävention als auch im Bereich von Heilung ist der Wert seiner Arbeit folglich eher begrenzt."

Herkömmliche Praxis in der Medizin sei es, Testergebnisse für eine Diagnose heranzuziehen. Nur beeinflusse ein Patient zwangsläufig das Ergebnis eines Tests, der die Verhältnisse in ihm aufdecken soll, durch die Art und Weise, wie er seine Mechanismen gebraucht, heißt es dort weiter. "Wenn dieser Einfluss nicht berücksichtigt wird, muss jede Diagnose, die auf diesem Test beruht, mehr oder weniger unvollständig sein, je nach der Stärke dieses Einflusses."

Dazu erzählt F. M. Alexander in "Der Gebrauch des Selbst" die folgende Geschichte: "Ein Spezialist hatte mich zu einem Fall um Rat gebeten. Als ich in das Behandlungszimmer kam, war er gerade dabei, Brust und Lunge mit dem Stethoskop abzuhören. Mir war sofort aufgefallen, dass es sich hier um einen der schlimmsten Fälle falschen Gebrauchs handelte, der mir jemals begegnet ist. Damit verbunden waren Kontraktion und Unbeweglichkeit des Brustkorbs, ein niedergedrückter Kehlkopf, ein schlimmer Buckel und die Neigung, bei den ganz normalen Tätigkeiten des Lebens die Luft anzuhalten. Die Art und Weise, wie der Patient sich gebrauchte, behinderte die Prozesse der Atmung und des Kreislaufs, was wiederum den Puls und den Blutdruck negativ beeinflusste. Der Spezialist beendete seine Untersuchung und bat mich selbst einmal zu hören, damit ich eine Vorstellung von den Atemschwierigkeiten des Patienten aus ärztlicher Sicht bekäme. Ich tat, wie geheißen, und notierte zusammen mit ihm, was ich gehört hatte. Danach wies ich ihn auf die Symptome des falschen Gebrauchs hin, die ich bei dem Patienten ausgemacht hatte. Ich schlug vor, denselben Test noch einmal durchzuführen. Ich würde nur einige wenige Veränderungen an den Verhältnissen seines Gebrauchs vornehmen und anschließend dafür sorgen, dass diese veränderten Verhältnisse wähend des erneuten Tests erhalten blieben. Mit dem Stethoskop würde ein völlig anderes Ergebnis registriert werden. Gesagt, getan. Als der Spezialist erneut das Stethoskop zur Untersuchung einsetzte, musste er gestehen, dass das, was ich vorausgesagt hatte, eingetroffen war."

Wenden wir uns jetzt wieder dem Fall der jetzt 70-jährigen Frau zu, der aufgrund eines Tests vor drei Jahren Frühdemenz attestiert worden ist, und werfen einen Blick auf das Zeitungsfoto, das ihren Kopf-, Hals- und Brustbereich zeigt. Für jemanden, der mit der Materie vertraut ist, ist es nicht schwer, einige Merkmale falschen Gebrauchs zu erkennen: Den zurück- und eingezogenen Kopf, den gestauchten Hals oder die hoch- und zurückgezogenen Schultern. In einer genaueren Analyse, die auch das Becken und die Beine und die Bewegungsmuster mit einbezieht, würden sicherlich weitere Zeichen ihres schädlichen Gebrauchs aufgedeckt werden können.

Nun haben "die Ärzte sie ja mit dem Befund 'Frühdemenz' nicht allein gelassen" und sie zu Yoga und Ergotherapie gebracht. Diese haben sicherlich ihren Eigenwert. Wenn jedoch der falsche Gebrauch der Frau nicht vorher so verändert worden ist, dass sich die Gebrauchsverhältnisse nicht länger schädlich auswirken, werden auch Yoga und Ergotherapie mit Bestimmtheit zu einer weiteren Veschlechterung ihres Allgemeinzustandes führen.

Man soll jetzt ja nicht sagen, dass die Gewohnheiten eines 70-jährigen Menschen nicht mehr verändert werden können. Der Mensch verändert sich Tag für Tag bis ins hohe Alter, ohne dass er sich der jeweiligen kleinen Veränderungen unbedingt bewusst wird. (Und mit dem Tod ist dieser Veränderungsprozess lange noch nicht abgeschlossen.) Wenn sich ein Mensch für die Verfahren der Alexandertechnik öffnet, kann dieser Veränderungsprozess zu jeder Zeit sehr wohl auch bewusst gestaltet werden. F. M. Alexander beschreibt den Fall eines über 60-jährigen, der aufgrund einer 'Angina pectoris' seinen Beruf als Arzt und sein geliebtes Hobby Golf spielen aufgeben musste: "Ich erklärte ihm nun, wie ich in seinem Fall methodisch vorgehen wollte. Ich würde versuchen, seine unbefriedigenden Gebrauchsverhältnisse zu verändern, um solch wünschenswerte Verhältnisse zu schaffen, wie man sie tatsächlich nur in Verbindung mit einem befriedigenden Funktionsniveau vorfindet." Im Laufe des Prozesses zum Aufbau eines neuen und befriedigenden Gebrauchs waren die Symptome, die zu der Diagnose 'Angina pectoris' Anlass gegeben haben, mehr und mehr verschwunden, so dass der Arzt wieder seinen Beruf ausüben und auch wieder Golf spielen konnte. F. M. Alexander traf ihn Jahre später wieder und konnte sehen, dass der Arzt weiterhin auf einem guten Weg war.

Warum sollte also nicht auch die Frau diesen Weg gehen können, der man prophezeit hat, spätestens in 20 Jahren werde sie eine volle Demenz ausgebildet haben? Sie wolle nicht in der Ecke sitzen, sondern lieber aktiv bleiben. Deshalb mache sie inzwischen gerne Kreuzworträtsel und diese fielen ihr heute sogar leichter als früher, wird sie in dem Zeitungsartikel zitiert. Beides, ihre Motivation, aktiv zu sein, sich nicht ihrem Schicksal zu ergeben, und ihre neue geistige Regheit lassen erwarten, dass sie die Steuerungsbefehle erlernen und memorieren kann, die notwendig sind, um ihre "unbefriedigenden Gebrauchsverhältnisse" zu verändern. Und weil Nein-sagen den Menschen im Alter sowieso leichter fällt, wird sie auch ihren bisherigen schädlichen Gebrauch leichter hemmen können, wie der Fachbegriff in der Alexandertechnik lautet. Alles andere - ihre sinnliche Wahrnehmung auf eine verlässliche Basis zu stellen, ihren Gebrauch so zu verändern, dass nicht das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken gestört wird und anderes mehr - ist dann zunächst Sache eines Alexandertechniklehrers.

Bis bald

Dein Großvater

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