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Im Brennglas der Alexandertechnik: Physiotherapie und COVID-19


Liebe Marie,

"COVID-19 ist eine Erkrankung der Lungen", heißt es in dem Bericht der WHO-China, in dem die COVID-19-Fälle in Wuhan, China, wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Da macht es zunächst einmal durchaus Sinn, wenn die Physiotherapie ihre Hilfe im Zusammenhang mit diesem teuflischen Krankheitsbild anbietet, um Schleim und Sekrete zu lösen, um den Brustkorb zu mobilisieren, um das Abhusten zu erleichtern, um "Entzündungssymptome zu verringern und um "die Verschleimung der Lunge" zu verlangsamen, wie es in dem Artikel im Hagener Lokalteils der Westfälischen Rundschau vom 27. März 2020 heißt. Mit physiotherapeutischen Maßnahmen könne man z. B. den Brustkorb durch spezielle Atemübungen mobilisieren und dadurch, dass "der Brustkorb vorsichtig mit der hohlen Hand abgeklopft wird".

In "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen", der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL schreibt F. M. Alexander dazu: "Bei der großen Mehrzahl der Menschen sind bereits schädliche Defekte festzustellen, wenn sie die Atemmechanismen gebrauchen. Damit einher geht ein enormer Verfall der inneren Brustkorbkapazität und seiner Beweglichkeit. (.......) Dazu kommt noch das, was im Allgemeinen 'schlechte Atmung' genannt wird. Zwar sagt man, dass jemand 'schlecht atmet'. Aber dabei ist nicht zu vergessen, die eine sogenannte 'schlechte Atmung' nicht die eigentliche Ursache für den schlechten Allgemeinzustand ist, sondern nur ein Symptom. Die Qualität der Atmung hängt nämlich davon ab, dass die geistig-körperlichen Mechanismen generell auf einem entsprechenden Koordinationsniveau gebraucht werden. Wir sollten deshalb nicht davon sprechen, dass jemand 'schlecht atmet', sondern vielmehr davon, dass er schlecht koordiniert ist. Wenn der schlechte Koordinationszustand als 'schlechte Atmung' bezeichnet wird, machen wir fälschlicherweise einen schlechten Allgemeinzustand zu einem spezifischen Defekt."

In "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert", der Erstübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE schreibt F. M. Alexander zu den Auswirkungen minimaler Brustkorbkapazität auf den Seiten 14f folgendes: "Wenn die Brustkorbkapazität stark reduziert ist, hat dies zur Folge, dass die Organe im Inneren des Brustkorbes in schädlicher Weise zusammengedrückt werden. Herz und Lungen sind nicht mehr in der Lage, angemessen zu funktionieren. Ein schädigender Druck legt sich auf das Herz. Die Lungen werden nicht richtig benutzt oder nicht genügend belüftet. Das Lungengewebe verfällt. Die richtige Blutverteilung wird negativ beeinflusst: Zu viel Blut sammelt sich in der Region der Eingeweide an und auch die Versorgung mit Blut über die Lungen ist beeinträchtigt. Nun spielen ja die Lungen bei der Verteilung des Blutes eine wesentliche Rolle. So ist es nicht schwer zu verstehen, dass der Zustand minimaler Brustkorbkapazität einen starken Einfluss auf den Blutkreislauf und die allgemeine Versorgung mit Blut haben muss. Die Atemprozesse sind ebenfalls betroffen. Es wird kein teilweises Vakuum in den Lungen hergestellt, indem sich durch eine koordinierte Brustkorberweiterung ein atmosphärischer Unterdruck in den Lungen aufbaut. Die Luft wird stattdessen eingesogen. Im Bauchraum entsteht ein übermäßiger Druck. Es kommt zu einer schädlichen Erschlaffung der Bauchmuskeln, was dann zu einer Verschiebung des Bauchgewebes nach unten, zu fehlerhafter Funktion von Leber, Nieren und Blase usw. führt. Im Darm kommt es zu Stauungen. Dünndarm und Eingeweide werden gereizt und gebläht. Die Folge sind Verstopfung und Verdauungsstörungen, daraus entstehende Defekte und eine Schädigung aller lebenswichtigen Systeme insgesamt."

Bei solchen Vorschädigungen fällt es Sars-CoV-2 nach seinem Eindringen in einen Organismus natürlich bedeutend leichter, in den Lungen beträchtlichen Schaden anzurichten. Eine Studie der WHO-China, in der die COVID-19-Fälle in Wuhan, China, wissenschaftlich aufgearbeitet worden sind, besagt, dass 80 % der Fälle 'mild bis moderat' verlaufen sind, 14 % schwer und 6 % waren kritisch. "Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ein milder Verlauf von Covid-19 ist nicht zu vergleichen mit einer milden Erkältung. Alles unterhalb der Notwendigkeit, zusätzlich mit Sauerstoff versorgt zu werden, gehört in diese Kategorie. Schwere Fälle benötigen definitiv zusätzlichen Sauerstoff. Und kritische Fälle definieren sich durch Lungen- oder gar Multi-Organversagen", heißt es in dem Bericht.

Wenn für diese Vorschädigungen "eine stark reduzierte Brustkorbkapazität" verantwortlich ist, wie es F. M. Alexander in dem Zitat oben festgestellt hat, stellt sich als die Frage, wie es gelingen kann, sie in ihrem Inneren zu vergrößern. Dabei spielt eine Atmung, die die Luft nicht einsaugt, sondern dadurch einströmen lässt, dass sich zum Ende der Ausatmung ein atmophärischer Unterdruck in den Lungen aufgebaut hat, eine entscheidende Rolle. Eine solche Atmung hält die Zwischenrippenmuskulatur elastisch und macht sie immer noch elastischer, so dass sich das Volumen des inneren Brustraums nach und nach vergrößert.

Nun haben wir ja oben gelesen, dass "die Qualität der Atmung davon abhängt, dass die geistig-körperlichen Mechanismen generell auf einem entsprechenden Koordinationsniveau gebraucht werden." Die Frage muss also genauer lauten: Wie können die geistig-körperlichen Mechanismen besser und immer noch besser koordiniert werden. F. M. Alexander beantwortet diese Frage am Beispiel des John Doe, wenn er schreibt, dass "John Doe eine bewusste und genaue Kennntnis über die richtigen Gebrauchsweisen der Teile seines Muskelmechanismus" fehlte. Und weiter führt der Autor aus: "Sein eigenes Bewusstsein (....) über die Mittel und die Gebrauchsweise der Muskelmechanismen bleibt weiter unverändert. (......) Er muss deshalb zunächst seine Fehler in seinem Gebrauch erkannt haben. Oder er muss jemanden finden, der ihm zeigen kann, was seine Fehler sind. Wenn dies geschehen ist, muss er als nächstes seine Empfindungen hemmen, die ihn steuern und die die Ursache dafür sind, dass er seine Muskelmechanismen nur unzulänglich gebraucht. Er muss verstehen und einsehen, dass es bestimmte 'Positionen mit mechanischem Vorteil' gibt. Wenn er dann die neuen und richtigen Befehle zur Steuerung verwendet oder sich von den entsprechenden Empfindungen leiten lässt, wird er bald in der Lage sein, den angemessenen Gebrauch seiner Muskelmechanismen mit wunderbarer Leichtigkeit zu ermöglichen."

Was für die Muskelmechanismen gilt, hat auch Gültigkeit für alle anderen Mechanismen, Systeme und Funktionen im menschlichen Organismus. Ein solcher Organismus stellt nämlich eine geistig-körperliche Einheit dar. Und das Funktionsniveau aller seiner Mechanismen, Systeme und Funktionen ist von dem allgemeinen Gebrauch des Einzelnen abhängig. Wenn dieser Gebrauch so ist, dass die richtige Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken nicht gestört wird, ist auch das menschliche Immunsystem bestens aufgestellt, um es auch mit Sars-CoV-2 aufzunehmen.

Christian Droste von der Berliner Charite hat in der Westfälischen Rundschau vom 31. März 2020 einen interessanten Gedanken geäußert, der jedoch von der Wissenschaft bisher nur als Hypothese formuliert worden sei: Wenn das Virus bereits im Rachen angreife und dort das Immunsystem zum Einsatz komme, hat das Immunsystem einen gewissen Lernvorsprung bei der Bekämpfung eines Erregers, "bevor er in die Lunge gewandert ist. Die Abwehrmaschinerie läuft schon." An dieser Stelle wird auch deutlich, warum die Luft im Normalfall durch die Nase einströmen sollte: Neben den allgemein bekannten Vorteilen verlängert sich auch der Weg, den die Luft nimmt, ehe sie die Lunge erreicht. Das Immunsystem hat so mehr Zeit und eine größere Angriffsfläche, um Sars-CoV-2 schon vor dem Eintritt in die Lunge zu bekämpfen. Eine Lungenentzündung und ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome), bei der Immunzellen alles angreifen, was sich ihnen in den Weg stellt - auch gesunde Zellen - können sich gar nicht erst entwickeln. Aus dem gleichen Grund erhält auch die richtige Primärkontrolle eine zusätzliche Dimension, wenn der Kopf nicht eingezogen und so der Hals nicht verkürzt wird.

Eines muss ich aber zum Schluss eingestehen: Eine Veränderung des Gebrauchs hin zum Besseren kann nicht von heute auf morgen gelingen. Ein Alexandertechniklehrer wird schon ein halbes bis ein ganzes Jahr brauchen, um dem Einzelnen zu vermitteln, wie er seinen Gebrauch so verändern kann, dass er nicht länger das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken stört. Deshalb sollten wir auch keinen Moment länger zögern, mit der Ausbildung zu beginnen, um gewappnet zu sein, wenn das nächste Virus die Menschen bedroht, das vielleicht noch gefährlicher ist als Sars-CoV-2.

Bis dahin sind wir in der gegenwärtigen Situation auf alles angewiesen, was vielleicht helfen kann, ein fatales Ende zu verhindern, und wenn es dadurch gelingt, dass "der Brustkorb vorsichtig mit der hohlen Hand abgeklopft wird".

Bis bald

Dein Großvater

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