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Im Brennglas der Alexandertechnik: Das Kiefergelenk


Liebe Marie,

wenn wir unser "Essen zwischen den Zähnen zermalmen", wie dies in einem Artikel der Westfälischen Rundschau vom 2. November 2019 genannt wird, oder wenn wir mit anderen Menschen sprechen, komme ein "kompliziertes Zusammenspiel zwischen Ober- und Unterkiefer, zwischen Kaumuskulatur und den Kiefergelenken zum Einsatz. Und auch Belastung und Stress sorgten oftmals unbewusst und unbemerkt für zusätzlichen Druck auf die Kiefermuskulatur.

Diffuse Kopf- und Rückenschmerzen, Kniebeschwerden, Schwindelgefühl, Tinnitus, verhärtete Nackenmuskeln oder verspannte Kau-, Kopf- und Gesichtsmuskeln könnten die Folge sein. Man solle sich deshalb "angewöhnen, auf eine entspannte Kieferpostion zu achten". Entspannt sei ein Kiefer, wenn die Zähne des Ober- und Unterkiefers keinen Kontakt zueinander hätten, die Zunge locker im Gaumen hänge, die Lippen aber geschlossen seien.

Es werden in dem Artikel auch Übungen und Maßnahmen empfohlen, um dies zu erreichen: die Massage der Kaumuskeln an den Wangen, bewusstes herzhaftes Gähnen zur Dehnung des Kiefergelenks, Grimassen schneiden, seitlichen Druck auf das Kiefergelenk ausüben, den Unterkiefer mit den Fingern hinter den Kiefergelenken nach vorne drücken oder eine Massage der Halswender.

Dass das Problem überhaupt erkannt worden ist, ist schon ein Schritt in die richtige Richtung. Ob aber die in dem Artikel vorgeschlagenen Maßnahmen eine grundsätzliche Lösung des Problems darstellen, ist doch eher zweifelhaft. Wenn man nämlich gar nicht wahrnimmt, dass man gewohnheitsmäßig die Zunge einrollt, mit ihr herumspielt oder sie verkrampft, wie soll man sie dann "locker am Gaumen hängen lassen" können? Wenn jemand nicht merkt, wie angespannt

z. B. seine Kinn-Wangen-Partie ist, was laut Zeitungsartikel durchaus oftmals der Fall sein soll, wie soll er dann bewusst auf eine entspannte Kieferposition achten? Und was ist überhaupt mit einer "entspannten Position" und speziell mit einer entspannten Kieferposition gemeint? Auf diese Fragen finden sich in dem vorliegenden Zeitungsartikel leider keine zufriedenstellenden Antworten.

F. M. Alexander hat mit seiner Technik, die er am eigenen Leibe ausprobiert und deren Validität und Stichhaltigkeit sich in Tausenden und Abertausenden von Fällen bestätigt hat, Methoden entwickelt, mit denen die in den Fragen angesprochenen Probleme tatsächlich zu lösen sind.

Da ist das Problem einer sinnlichen Wahrnehmung, auf die man sich sehr oft nicht mehr verlassen kann, und des fast völligen Versagens der kinästhetischen Wahrnehmung. Das kinästhetische System sei nämlich in seine Einzelteile zerlegt worden, als der Mensch versucht hat, in Abhängigkeit von seinem unterbewusst kontrollierten Organismus von den niederen Stufen auf die höheren Stufen der Evolution zu gelangen, wie es F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE formuliert hat. Dramatisch ist dieses Versagen, weil der Mensch ohne kinästhetische Wahrnehmung nicht mehr fähig ist, selbst bei den einfachsten Handlungen die Lage der Teile des Körpers zu erkennen und die Größe der jeweils benötigten Muskelspannung abzuschätzen.

Das Problem der fehlerhaften sinnlichen Wahrnehmung steht auf einer Stufe mit der Hemmung eines falschen Verhaltens, wie der Fachbegriff in der Alexandertechnik lautet. Bevor nämlich ein falsches Verhalten nicht gehemmt worden ist, kann ein neues, jetzt richtiges Verhalten gar nicht installiert werden. Die Grundlage für dieseTechnik ist "die Hemmung des gewohnheitsmäßigen Gebrauchs. Der Schüler muss lernen, es abzulehnen, in seiner gewohnten Weise auf einen Stimulus zu reagieren. Von Anfang an hat dieses Prinzip der Verhinderung die höchste Priorität. Es wird verhindert, dass der Schüler die primäre Kontrolle seines Selbstgebrauchs auf seine gewohnte Weise verwendet." Dies schreibt F. M. Alexander in "Die Konstante im Fluss des Lebens", der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING (BooksonDemand, Anfang 2020).

Und weiter heißt es dort: "Für den Einsatz der Hemmung bedarf es der Einübung und der Bewusstheit. Das Gedächtnis ist gefragt, wenn man sich an die an der Technik beteiligten Verfahren und an die richtige Abfolge, in der sie eingesetzt werden, erinnern will. Bewusstheit braucht man bei der Wahrnehmung des Geschehens. Beide Fähigkeiten werden im Laufe des Veränderungsprozesses selbst entwickelt und die Reichweite ihres Einsatzes dehnt sich dabei allmählich aus. Die so erworbenen Erfahrungen helfen zum einen, das Gedächtnis zu entwickeln, und zum anderen wird eine Qualität des Gedächtnisses herausgebildet, die mentale, motorische, und sensorische Erinnerungen miteinander verknüpft."

Ein weiteres Problem stellt die Macht dar, die Gewohnheiten im Normalfall über uns haben. In seinem letzten Buch schreibt F. M. Alexander dazu: "Gewohnheit ist jede Verkörperung einer instinktiven oder sonstigen Reaktion. Sie zeigt sich in der Gebrauchsweise des Selbst, die in jedem Augenblick und unter allen Umständen als ein konstanter Einfluss zu unseren Gunsten oder zu unseren Ungunsten wirkt." Es sei, wie wir alle bestimmt aus eigener Erfahrung wissen, äußerst schwierig, "selbst einfachste Gewohnheiten abzulegen". Und diese Schwierigkeit werde umso größer, "je intensiver der Stimulus ist, der uns der Gewohnheit nachgeben lässt." Der Stimulus, der uns veranlasst, das Kiefergelenk geschlossen zu halten, ist eher stark, weil wir dies bereits unser ganzes Leben lang getan haben und durch Erziehung angehalten worden sind, dies zu tun: Mit offenem Mund dazustehen, drückt zwar manchmal Verwunderung aus, wird aber auch dem Verhalten eines Schwachsinnigen zugeordnet..

Und da ist das Problem des "Zielstrebens". In seinem letzten Buch schreibt F. M. Alexander dazu: "Der Mensch wird mehr und mehr zu einem Zielstreber. Allzu oft beharrt er darauf, sein Ziel ohne Rücksicht auf Verluste erreichen zu wollen. Lieber nimmt er ein großes Unglück in Kauf, als dass er sich die Zeit nimmt, die Mittel-und-Wege zu bedenken, mit denen er sein Ziel erreichen könnte und die das bestmögliche Resultat gewährleisten." Diese Mittel-und-Wege müssten von einer Art sein, dass sie es ermöglichen, "Erfahrungen zu sammeln, um von einer Steuerung und Kontrolle des geistig-körperlichen Organismus, die vertraut, aber falsch ist, zu einer Steuerung und Kontrolle zu gelangen, die unvertraut, aber richtig ist."

Der Zeitungsartikel, der die Grundlage des heutigen Themas ist, spricht von einem "komplizierten Zusammenspiel zwischen Ober- und Unterkiefer", um den Mund zu öffnen. F. M. Alexander beschreibt "dieses komplizierte Zusammenspiel" in "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL wie folgt: "Es gibt (heutzutage) nur wenige Menschen, die nicht den Kopf zurückwerfen, wenn sie aufgefordert sind, den Mund zu öffnen, was ja eigentlich so einfach wie nur irgendetwas ist. Ihre Vorstellung dabei ist aber, dass sie den Oberkiefer vom Unterkiefer wegheben wollen. Sie haben sich allem Anschein nach keinerlei Gedanken darüber gemacht, wie die Muskelmechanismen und auch andere Mechanismen geistig-körperlich einzusetzen sind. Wenn sie dies nämlich getan hätten, hätten sie erkannt haben müssen, dass beständig unterbewusst Prozesse ablaufen, die den Mund verschlossen halten. In der Konsequenz hätten sie dafür sorgen müssen, dass diese Prozesse unterbunden werden. Auf diese Weise würde bewirkt, dass sich die vorhandene Muskelspannung reduziert, was dann die Kinnlade herunterfallen ließe."

Weil F. M. Alexander die Probleme, die sich aus einer fehlerhaften sinnlichen Wahrnehmung, aus dem Zielstreben und daraus ergeben, dass man allzu sehr ein Gefangener seiner Gewohnheiten ist, nicht nur gesehen, sondern am eigenen Leibe erfahren hat, und weil ihm klar geworden ist, dass die "komplizierte" Art und Weise des Mund-Öffnens ein extremer Eingriff in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken ist, hat er dafür das spezielle Verfahren "Das geflüsterte Ah" entwickelt. In Verbindung mit der Hemmung des falschen Gebrauchs, der Entwicklung einer zuverlässigen sinnlichen Wahrnehmung, insbesondere einer kinästhetischen Wahrnehmung, ganz bestimmten Selbstbefehlen oder Anweisungen, Lehrermanipulation und der Erkennntnis seitens des Schülers, dass Veränderungen nicht von heute auf morgen zu erwarten sind, wird es dazu führen, dass all die oben aufgelisteten möglichen Beschwerden sich früher oder später in Luft aufgelöst haben.

Du willst mehr über dieses Verfahren "Das geflüsterte Ah" wissen, liebe Paula? Bestimmt werde ich in einem der nächsten Beitrage darauf zurückkommen.

Bis bald

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