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Im Brennglas der Alexandertechnik: Gewohnheiten ablegen


Liebe Marie,

der Mensch sei ein Gewohnheitstier, wird die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Eva Kalbheim in der Westfälischen Rundschau vom 19. Oktober 2019 zitiert. Gewohnheiten strukturierten unseren Tag. In aller Regel machen sie uns das Leben leichter, weil so unser Gehirn entlastet wird und Kapazitäten frei werden, um neue, kreative Lösungen für unsere tagtäglichen Probleme zu finden. So sei das morgendliche Ritual vom Aufstehen bis zum Verlassen des Hauses weitgehend von nützlichen Gewohnheiten geprägt, stellt Dr. Kalbheim fest.

Gewohnheiten werden jedoch zu einem Problem, wenn wir sie ablegen wollen, weil sie uns z. B. schaden. Dann sei es notwendig, die "alten Muster zu löschen und neue Muster zu speichern". Um dies zu erreichen, bemüht die Ärztin ihr Fachgebiet, die Psychologie. Man solle sich selbst genau beobachten, das eigene Verhalten analysieren, eigene Ansätze finden, wie man ein gewünschtes Ziel, das möglichst präzise formuliert sein sollte, erreichen will, seine inneren Antreiber und Blockierer kennenlernen, mit Entschiedenheit, Entschlossenheit und Mut an die Sache herangehen und auch ein mögliches Scheitern für dieses eine Mal akzeptieren.

Die Methode, die Eva Kalbmann empfiehlt, um "den inneren Schweinehund" - so lautet auch der Titel ihres in der Tageszeitung besprochenen Buches - zu besiegen, ist die Methode Versuch-und-Irrtum. In "Die Konstante im Fluss des Lebens", der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONTANT IN LIVING (BooksonDemand, Anfang 2020) schreibt F. M. Alexander: "Beim Golf führen die Erfahrungen nach dem Prinzip Versuch-und-Irrtum (..) auch zu wachsender Unsicherheit, zum Verlust an Selbstvertrauen, zu Verärgerung und dazu, dass man leicht die Geduld verliert." Dies ist durchaus leicht nachzuvollziehen: Wenn aufgrund der angewandten Methode die Ergebnisse der Handlungsversuche, nicht nur beim Golf, vage bleiben, kann es gar nicht ausbleiben, dass sich Verunsicherung breit macht und das Selbstvertrauen mehr und mehr schwindet, was dann der Nährboden dafür ist, dass man sich leicht ärgert und aus der Haut fährt.

"Wenn wir (..) eine Schwäche loswerden oder eine Handlungsweise verändern wollen, werden wir ohne eine Ausnahme daran scheitern. Die Gründe dafür sind einleuchtend. Wenn es bei einem Menschen Schwächen in den Körperstellungen und im Gebrauch der Muskelmechanismen und wenn es Probleme mit dem Gleichgewicht gibt, sind diese Schwächen und Probleme das Ergebnis von übermäßiger Verhärtung in einigen Bereichen der Muskelmechanismen bei gleichzeitiger Erschlaffung in anderen Bereichen." Dies hat F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE geschrieben.

Es ist vielleicht durchaus möglich, die eine oder andere Fehlstellung der Körperteile zueinander mit der Methode Versuch-und-Irrtum zu verändern, ja sogar zu verbessern. Aber zum einen wird dies nicht nachhaltig sein, weil das Bewusstsein des Betroffenen daran nicht beteiligt ist. Zum anderen ist es höchst wahrscheinlich, dass es daraufhin an anderer Stelle zu Problemen kommt. Solange aber eine Gewohnheit Bestand hat, bleiben die Fehlstellungen mit dem entsprechenden fehlerhaften Gebrauch der Muskelmechanismen erhalten, weil diese eng miteinander verzahnt sind. Um mit den angeführten Problemen fertig zu werden, ist die Methode Versuch-und-Irrtum also nicht nur wegen ihrer psychlogischen Auswirkungen relativ ungeeignet.

Die Methode, die die Alexandertechnik einsetzt, ist eine andere: "Auf angemessene Weise und vernünftig (sollen) die richtigen Mittel-und-Wege berücksichtigt" werden. Einige der Mittel, mit denen es möglich ist, von einer Gewohnheit loszukommen, sind die Hemmung der falschen Verhaltensweisen, eine wiederhergestellte zuverlässige sinnliche Wahrnehmung inklusive der kinästhetischen Wahrnehmung, bewusst erteilte Steuerungsbefehle, eine Primärkontrolle, die verhindert, dass die jeweilige Person in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreift, und die gewährleistet, dass sich der allgemeine Gebrauch des betroffenen Menschen allmählich verbessert.

Wenn das System der "Bewussten Steuerung und Kontrolle" erst einmal mit der Hilfe eines Lehrers, der die Methodik der Alexandertechnik beherrrscht, eingerichtet worden ist, verliert die Gewohnheit am Ende ihren Status als solche. In "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" heißt es dazu, "dass es einen Unterschied macht, ob eine Gewohnheit als solche erkannt und verstanden worden ist oder ob sie es nicht ist. Eine Gewohnheit, die erkannt und auch verstanden worden ist, kann nämlich über den Willen geändert werden. Wenn die Fähigkeit zur bewussten Kontrolle erst einmal erworben worden ist, ist es nicht zwingend, dass eine "Gewohnheit" überhaupt starr wird. Sie ist dann eigentlich gar keine Gewohnheit mehr, sondern eher ein Befehl oder eine Kette von Befehlen, die zur Körperkontrolle an die untergeordneten Stellen übermittelt werden. Diese Befehle werden solange befolgt, bis neue Befehle erteilt werden."

Verstanden ist das Prinzip der Gewohnheit, wenn ich wirklich verstanden habe, dass mit jeder Gewohnheit auch individuelle körperliche und mentale Verhaltensmuster verbunden sind und dass diese Muster aufzubrechen und unter eine bewusste Steuerung und Kontrolle zu bringen sind, wenn ich von einer Gewohnheit loskommen will. Bis dahin bleibt angesichts der ungeheuren Macht unserer Gewohnheiten die Vorstellung, frei zu sein, nur eine Seifenblase. Mit einer bewussten Steuerung und Kontrolle aber wird sie für den einzelnen Menschen endlich zu einer Realität.

Bis bald

Dein Großvater

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