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Im Brennglas der Alexandertechnik: Stimmbildung


Liebe Marie,

Hagen, die Stadt, in der ich lebe, ist in der glücklichen Situation, dass hier die Gesangspädagogin von Anfang an beides studiert hat: Gesang und Musikpädagogik. Sie hat also nicht ihren Beruf als Sängerin aufgrund von Stimmproblemen aufgeben müssen und ist dann auf die Idee gekommen, anderen das Singen beibringen zu wollen. F. M. Alexander hatte eine solche Berufsentwicklung stark kritisiert, weil so die Fehler des Gesangslehrers oder der Lehrerin weitergegeben werden, die ja dazu geführt haben, dass die professionelle Gesangskarriere beendet werden musste.

Die Hagener Gesangspädagogin habe zunächst Gesang am Mozartinum in Salzburg und Musikpädagogik an der Universität München studiert, Meisterkurse bei berühmten Sängern belegt, eine Fortbildung zur Stimmpädagogin absolviert und arbeite heute als Konzertsängerin und Gesangspädagogin, weiß die Westfälische Rundschau vom 6. August 2019 zu berichten.

Bei ihrer Arbeit lasse sie sich von bestimmten Prinzipien leiten: Loslassen sei die Grunddevise; der Körper solle sich raumgreifend aufrichten; die Räume im Körper seien zu entwickeln; Räume öffneten sich, wenn Verspannungen gelöst werden; Singen und Sprechen habe mit Muskelarbeit zu tun, die im Verborgenen geleistet werde; die verschiedenen Wege, den Mund zu öffnen, seien zu schulen und anderes mehr.

Zum Öffnen des Mundes schreibt F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE ins Deutsche: "Um den Mund zu öffnen, wird der Kopf zurückgeworfen. Dies ist ein weit verbreiteter Fehler, den sogar professionelle Sänger begehen. Wenn wir die Kiefergelenkbewegung aber ganz nüchtern vom rein anatomischen Blickwinkel aus betrachten, werden wir leicht erkennen, dass sich der Unterkiefer ohne Anstrengung nach unten bewegen kann. Wenn der Unterkiefer gesenkt wird, ist es überhaupt nicht notwendig, den Kopf nach hinten zu bewegen, um das Öffnen des Mundes zu bewirken. Es ist vielmehr eine Tatsache, dass die beschriebene Bewegung viel schneller und perfekter ausgeführt werden kann, wenn der Kopf aufgerichtet bleibt und nicht die eine oder andere Ausgleichsbewegung macht. Jeder, der seine Stimme beruflich nutzt, sollte in der Tat den Mund öffnen können, ohne dass er dabei seinen Kopf zurückwirft." Und an anderer Stelle schreibt er dort: "Es gibt nur wenige Menschen, die nicht den Kopf zurückwerfen, wenn sie aufgefordert werden, den Mund zu öffnen. Sie haben sehr oft die Vorstellung, dass dazu der Ober- vom Unterkiefer weggehoben werden müsse. Sie bedenken nicht, dass es genügt, die unterbewussten Befehle zu hemmen, die die Mechanismen veranlassen, den Mund verschlossen zu halten. Eine solche Hemmung führt dann zu einer Verringerung der Muskelspannung, die den Unterkiefer einfach herunterfallen lässt." Auch könne der Mund nicht richtig geöffnet werden, wenn der Kehlkopf übermäßig heruntergedrückt werde. Die dadurch verursachte übermäßige Spannung und die eingeschränkte Beweglichkeit der Zunge, die ja mit dem Kehlkopf verbunden ist, seien ohne Zweifel der Hauptgrund für sehr viele Halsprobleme, ganz besonders bei Menschen, die von Berufs wegen ihre Stimme benutzten.

Die Universität Potsdam hat ein Arbeitsblatt mit einem Stimmübungsprogramm für das tägliche Training zuhause veröffentlicht, heißt es in meiner Tageszeitung weiter. Dieses Programm bestehe aus Entspannungs-, Atem-, Stimm- und Steigerungsübungen: Man solle die drei Phasen der Atmung Einatmung - Ausatmung - Pause erleben; die Methode des "Atemschnüffelns" und Lockerungsübungen für die Schulter werden empfohlen; die Wangen sollen gebläht und "platzen gelassen" werden; man solle "die Lippen flattern" lassen; die Intensität des Stimmeinsatzes sei von schwach und leise bis zu kräftig und laut zu steigern.

Das 3-Phasen-Modell der Universität Potsdam steht im Gegensatz zu der Beschreibung des Atemvorgangs, wie sie F. M. Alexander in Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (BooksonDemand, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL darlegt. Wenn erst einmal die richtigen Erfahrungen darin gesammelt worden sind, könne durch den Einsatz des Willens die Zu- und Abnahme der inneren Brustkorbkapazität mit minimaler Anstrengung und mit mathematischer Präzision gewährleistet werden. Und weiter schreibt er: "Die angesprochene Zunahme der inneren Brustkorbkapazität vermindert den Druck auf die Außenwände der Lungensäcke und führt augenblicklich zu einem partiellen Vakuum in den Lungen. Es wird wegen des atmosphärischen Drucks, der auf die Innenseite des Lungengewebes ausgeübt wird, genauso prompt mit Luft gefüllt. Es ist dieser Prozess, der die Luftmenge in den Lungen vergrößert. Und das ist es, was wir 'einen Atemzug machen' nennen. Die wunderbare Effizienz dieser Atemmaschine zeigt sich, sofern sie richtig funktioniert, wenn wir uns das Folgende vor Augen führen: Wir müssen nur weiterhin genau dieselben Mittel einsetzen, mit denen die Expansion des Brustkorbs in die Wege geleitet wird, um eine Kontraktion zu ermöglichen. Bei diesem Prozess der Kontraktion üben die Wände des Brustkorbs zunehmenden Druck auf die Lungen aus, so dass der Luftdruck in ihrem Innern letztlich überwunden und die Luft ausgestoßen wird. Einen solchen Ablauf nennen wir eine 'Ausatmung'. Zusammengenommen bilden Ausatmung und vorherige Einatmung einen kompletten Atemvorgang."

Aus F. M. Alexanders Beschreibung des Atemvorgangs wird auch ersichtlich, dass es eine kluge Entscheidung ist, die Grundlagen für richtiges Atmen zu legen, wenn Gesang und Rezitation eine neue Qualität erlangen sollen. Es ist jedoch ein grober Fehler, dies mit Stimmübungen tun zu wollen, ohne vorher den allgemeinen Gebrauch des Gesangsschülers verbessert zu haben. Ohne eine Verbesserung des des alten, gewohnten Gebrauchs, der in aller Regel eher schädlich ist, wird nämlich jegliche Übung durch ihn ruiniert. In seiner Einleitung zu F. M. Alexanders Buch CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL schreibt Prof. John Dewey: Dieser Gebrauch des "Selbst ist unsere eigene geistig-körperliche Art und Weise - eine Art Schablone - wie wir all unsere Anlagen und Energien verwenden."

Die Alexandertechnik nimmt nicht direkt Einfluss auf den Atemvorgang, sondern geht indirekt vor, indem zunächst der individuelle Gebrauch des Betroffenen - seine ganz persönliche Schablone - so verändert wird, dass er nicht länger in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreift. Dabei richtet sich in der Tat die gesamte Gestalt des Schülers auf, der Kehlkopf erhält den nötigen Platz, den er für seine Aufgaben braucht, und die Mechanismen, die an der Ein- und Ausatmung beteiligt sind, werden zufriedenstellend koordiniert. Erst dann kann mit einer Stimmbildung begonnen werden. Das Verfahren, das F. M. Alexander dafür entworfen hat, hat er das "Geflüsterte Ah" genannt. Der Vokallaut "Ah" sei bestens dafür geeignet: "Weil diese Form des Vokalgebrauchs im täglichen Leben so wenig verwendet wird, ist es auch sehr selten, dass bei der Stimmbildung damit die schlechten geistig-körperlichen Gewohnheiten verknüpft werden, die normalerweise anzutreffen sind." Aus dem gleichen Grund ist es ratsam, die Stimmbildung mit einem Flüstern zu beginnen.

"Der Lehrer wird also seinen Schüler zunächst anleiten, auf einem nur geflüsterten "Ah" auszuatmen. Dies erfordert auf Seiten des Lehrers ein Wissen darüber, wie der geistig-körperliche Organismus im Allgemeinen einzusetzen ist, wie der Mund geöffnet wird, wie Lippen, Zunge, weicher Gaumen usw. zu gebrauchen sind, ohne dass Stress und Verspannugen auf die Atemmechanismen wirken. Die dabei verwendete Technik, die Methodik des 'geflüsterten Ahs' verhindere, dass man nach Luft schnappe, dass der Kehlkopf übermäßig niedergedrückt werde, dass sich die Muskeln der Sprechorgane, des Rachens und des Halses zu sehr versteiften, dass die Front des Brustkorbs während der Einatmung zu sehr angehoben werde und manches andere mehr, schreibt F. M. Alexander in "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen".

Ein früherer Präsident des Chemischen Instituts von Südafrika hat in einer Rede F. M. Alexanders Aussagen so interpretiert: "Keine Übung der Welt kann dem Körper insgesamt guttun, wenn die instinktive Kontrolle des Übenden falsch und er schlecht koordiniert ist." Wenn sich aber die Verhaltensschablone des Gesangsschülers so verändert hat, dass er sein falsches Verhalten hemmen kann, dass ihn seine sinnliche Wahrnehmung nicht länger in die Irre leitet und er deshalb nicht mehr in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreift, kann jede Übung, wenn sie durchdacht ist, ihre volle Wirkung entfalten und dann ist der Weg bereitet für eine erfolgreiche Schulung der Stimme.

Bis bald

Dein Großvater

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