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Im Brennglas der Alexandertechnik: "Essen fassen"


Liebe Marie,

Martin Luther soll bei einer Tischrede den Ausspruch getan haben: "Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmecket?" Wie dem auch sei, heute sind wir von den Tischsitten des Mittelalters weit entfernt. Und ins Tischtuch zu schnäuzen oder in fremde Teller zu greifen, waren damals schon verpönt, ist in der Westfälischen Rundschau vom 15. Juli 2019 zu lesen. Im Laufe des Zivilisationsprozesses haben sich auch die Verhaltensregeln am Tisch stark gewandelt und verändern sich auch heute noch. "Beim Essen gerade sitzen", "erst kauen, dann schlucken, dann sprechen", "nicht mit den Fingern essen", das Besteck von außen nach innen benutzen", "Servietten nur zum Abtupfen der Lippen verwenden", "das Besteck filigran handhaben", die Etikette beim Essen hat sich seit dem Mittelalter nach und nach fast zu einer Wissenschaft für sich entwickelt. Heute kehrt sich der Prozess tatsächlich wieder um: "Der Umgang mit den Regeln ist merklich lockerer geworden", weiß Ramona Leinweber vom Düsseldorfer Sterne-Restaurant Fritz's Frau Franzi zu berichten.

In der Tat haben sich die Tischmanieren im Laufe der Zeit stark verändert, geht aus einem Feature des ZDF zu diesem Thema hervor. Lange Zeit dienten Regeln dazu, die Hierarchie am Tisch zu gewährleisten: Der König hat sich zuerst bedient, dann der Hofstaat und für die Bediensteten blieb, was zuletzt noch übrig war. Später konnte sich das Bürgertum durch diese Regeln von den niederen Bevölkerungsschichten abgrenzen: Tischmanieren, Tischschmuck, feines Geschirr und Besteck waren Kennzeichen gehobener bürgerlicher Verhältnisse.

Als man im Bürgertum erkannt hatte, dass sich unter Zivilisationsbedingungen bei den Menschen irgendwie schädliche körperliche Verhältnisse bemerkbar machten, wurden Regeln in die Etikette aufgenommen, die dem entgegenwirken sollten: Man sollte gerade am Tisch sitzen. Das Besteck war filigran zu halten. Die Ellenbogen durften beim Essen nicht aufgestützt werden. Die Speisen sollten zum Mund geführt werden und nicht umgekehrt. Nur konnten die Angesprochenen die Regeln gar nicht mit Inhalt füllen. Woher sollten sie wissen, was mit "gerade" gemeint ist? Was konnte es heißen, einen Löffel oder eine Gabel "filigran" zu halten? Und ihnen waren auch die Mittel nicht bekannt, wie all dies zu geschehen hatte. Wie musste die Speise richtig zum Mund geführt werden? Der einzige Anhaltspunkt, um diese Fragen für sich zu beantworten, war für die Kinder das Vorbild der Erwachsenen, die aber nur das durchsetzten, was sie unter "gerade", unter "Besteck halten" oder unter "die Speisen zum Mund führen" verstanden haben.

Welche Probleme mit der Methode der Imitation hervorgerufen werden, hat F. M. Alexander in Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (BooksonDemand, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL beschrieben: "Die unterbewusste Imitation der charakteristischen Merkmale anderer ist ein Faktor, der bei Entwicklung und Wachstum des Menschen eine große Rolle spielt. Und Imitation spielt auch beim Gebrauch unseres eigenen geistig-körperlichen Selbst eine entscheidende Rolle. Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass es eine natürliche Begabung und unterbewusste Neigung zur Imitation gibt. Und auch die schädlichen Konsequenzen, die durch Imitation bewirkt werden, sind unbestreitbar."

F. M. Alexander stellt dann fest, dass "die Mehrzal der Menschen mehr oder weniger große Schwächen ausgebildet" habe und dass eine ganze Reihe dieser Schwächen so extrem seien, dass man sogar "von einem Zustand der Deformation" sprechen müsse. Er schreibt dort dann weiter: "In diesen Schwächen liegen die enttäuschenden und schädlichen Resultate begründet, die sich aus Nachahmung ergeben. Der Imitationsprozess ist nämlich nur dann wirksam, wenn es etwas Außergewöhnliches zu imitieren gibt. Und der hauptsächliche Impuls zur Nachahmung geht von unserer bewussten oder unterbewussten Wahrnehmung einer sehr charakteristischen Auffälligkeit eines anderen Menschen aus. Solche Auffälligkeiten sind aber in aller Regel geistig-körperliche Defekte oder Eigenarten. In allen Bereichen des täglichen Lebens ist so die Gefahr sehr groß, dass das Individuum die Fehler anderer imitiert."

Wir könnten ja einmal in groben Zügen durchspielen, auf was es zu achten gilt, wenn man lernen will, den Arm auf eine neue Art zu heben. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass dies bisher mit viel zu viel Spannung geschehen ist. So wird ein Schüler lernen müssen, das Heben des Armes von vornherein mit der Vorstellung anzugehen, dass der Energieaufwand dafür weitaus geringer ist, als gedacht. Schon wenn er dazu ansetzt, wird er aus Gewohnheit seinen Kopf in den Nacken ziehen wollen. Es wird aber eine gewisse Zeit dauern, bis er tatsächlich wahrnimmt, dass er seinen Hals anspannt und seinen Kopf zurückzieht, weil das Niveau seiner sinnlichen Wahrnehmung vollkommen unzureichend ist. Die geschickten Manipulationen des Lehrers der Alexandertechnik werden aber dafür sorgen, dass allmählich das notwendige Niveau erreicht werden kann. Dann wird der Schüler es auch gelernt haben, das Zurückziehen des Kopfes und das Anspannen der Halsmuskulatur zu unterbinden, zu hemmen, wie der Fachbegriff in der Alexandertechnik lautet. Nach diesen Vorarbeiten soll er seinen Arm das erste Mal selbstständig heben, allerdings nur bis auf die Höhe, auf die er ihn normalerweise hebt, um die Speisen zum Mund zu führen. Dort heißt es zunächst innezuhalten, um zu verhindern, dass er wie gewohnt den Kopf zum Mund führt: Er muss an dieser Stelle noch einmal Nein! sagen zu dem Impuls, den Mund zur Hand zu führen. Nur dann hat er überhaupt eine Chance, dass er die Hand weiter hebt, ohne dass er in die primäre Kontrolle des Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken eingreift.

Noch ist die Speise aber nicht im Mund, der ja noch geschlossen ist. Das Öffnen des Mundes stellt in der Tat ein weiteres Problem dar, das umso größer ist, als wir dies täglich tausend Mal und mehr tun, um zu essen, zu kauen, zu sprechen oder zu singen. In Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert (BooksonDemand, 2018), der Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE ins Deutsche schreibt F. M. Alexander dazu: "Es gibt nur wenige Menschen, die nicht den Kopf zurückwerfen, wenn sie aufgefordert werden, den Mund zu öffnen. Sie haben sehr oft die Vorstellung, dass dazu der Ober- vom Unterkiefer weggehoben werden müsse. Sie bedenken nicht, dass es genügt, die unterbewussten Befehle zu hemmen, die die Mechanismen veranlassen, den Mund verschlossen zu halten. Eine solche Hemmung führt dann zu einer Verringerung der Muskelspannung, die den Unterkiefer einfach herunterfallen lässt."

Allein zum Öffnen des Mundes und zum Heben des Armes gäbe es noch so viel zu sagen, dass damit die Seiten eines kleinen Büchleins gefüllt werden könnten. Aber ganz gleich wieviel man darüber gelesen hat, was mit den Worten gemeint ist, wird sich einem Leser erst dann wirklich erschließen, wenn er mit einem Alexanderlehrer praktisch arbeitet. Vielleicht ist aber deutlich geworden, wieviel Arbeit darin steckt, eine liebgewonnene Gewohnheit abzulegen, ganz gleich ob sie schädlich ist oder nicht. Im Laufe des Lernprozesses in der Alexandertechnik geht das neue Verhalten allmählich in Fleisch und Blut über und wird zu einer neuen Gewohnheit, die jetzt aber eine positive ist: Aus dem bloßen "Essen fassen" wird wieder ein Speisen.

Ich habe diesen Blogeintrag sehr bewusst mit "Essen fassen" überschrieben, weil die Art und Weise wie ein BigMac oder ein chinesisches Nudelgericht heute oftmals vertilgt wird, nur noch sehr wenig mit der Kulturtechnik "speisen" zu tun hat. Wenn Du, liebe Marie, einmal sehen willst, wie jemand sich wunderbar gebraucht, wenn sie den Mund öffnet, dann schau Dir auf YouTube den kurzen Ausschnitt aus "Dido und Aeneas" des Theaters Hagen an. Dort kannst Du die Sopranistin Veronika Haller hören und vor allem auch sehen, wie sie singt. Aber ich warne noch einmal ausdrücklich vor bloßer Imitation: Wenn Du versuchen solltest, sie in ihrem Gebrauch nachzuahmen, wird es Dir nicht gelingen, weil Dir dafür sehr wahrscheinlich nicht die Mittel und Wege zur Verfügung stehen. Genieße einfach, was Du siehst.

Bis bald

Dein Großvater

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