top of page
Empfohlene Einträge

ZITATE AUS DER LITERATUR DER ALEXANDERTECHNIK: Über die Methode "Versuch und Irrtum"



Liebe Marie,

die Literatur zur Alexandertechnik teilt sich auf in die Primär- die Sekundär und die Tertiärliteratur. Zur Primärliteratur zählen nur die Schriften, die F. M. Alexander selbst verfasst hat. Werke der Sekundärliteratur sind die Bücher seiner Schüler, die er noch selbst unterrichtet hat, und alles Übrige, was zur Alexandertechnik geschrieben wurde, gehört zur Tertiärliteratur. Die vorliegenden Abschnitte stammen aus F. M. Alexanders zweitem Buch CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL ("Bewusste Kontrolle beim Um- und Aufbau des Menschen").


"Bei allen menschlichen Aktivitäten ist das Fehlen eines befriedigenden Zustands geistig-körperlichen Gleichgewichts eines der sehr auffälligen Kennzeichen schlechter Funktionsweisen des Organismus. Und dieser Zustand fehlerhaften Gleichgewichts weitet sich allmählich aus. Dafür verantwortlich zeichnet der gegenwärtig unterbewusste Gebrauch der geistig-körperlichen Mechanismen im Erziehungsbereich wie auch in anderen Bereichen. Es hat fast den Anschein, dass wir die folgende Tatsache im Allgemeinen als unvermeidlich hinnehmen: Von einem bestimmten Alter an erwarten wir einfach, dass wir unser Gleichgewicht schlechter halten können, so wie wir auch davon ausgehen, dass das Bauchgewebe mit der Zeit erschlafft und sich ein Bauch entwickelt, der hervorsteht. Man sagt auch: „Übung macht den Meister.“ Diese Behauptung hat sich bei einer solchen Erwartungshaltung ja wohl erledigt. Und es wird auch deutlich, dass etwas daran falsch sein muss, wenn das Gehen eingeübt wird.

 

     Dies ist eine nicht zu bestreitende Tatsache: Die Menschen gehen, ohne dass sie ein klares Verständnis von den Steuerungs- und Kontrollbefehlen haben, die bei der Tätigkeit des Gehens zu einer zufriedenstellenden Koordination und Einstellung der geistig-körperlichen Mechanismen führen. Wenn sich aber erst einmal ein oder mehrere Fehler in die Funktionsweise dieser Mechanismen eingeschlichen haben, sind die Menschen nicht in der Lage, ein solches Niveau zuverlässiger sinnlicher Wahrnehmung wieder aufzubauen, das es ihnen ermöglichen würde, diese Defekte zu beseitigen. Selbst wenn sie die Ursache oder die Ursachen kennen würden, würde sich daran nichts ändern, denn für ihre Beseitigung ist ein Umschulungsprozess auf allgemeiner Basis notwendig. Nur durch einen solchen Prozess kann es gelingen, die befriedigende Funktionsweise des gesamten Organismus wiederherstellen. Und so kann sich auch in allen Lebensbereichen das geistig-körperliche Gleichgewichtsniveau beständig verbessern.

 

     Was ich als nächstes zeigen will, ist dieses: Mit nahezu jedem Versuch, einen angenommenen oder einen realen geistig-körperlichen Schaden zu korrigieren, entwickeln sich neue Defekte, die in der Tendenz das geistig-körperliche Gleichgewichtsniveau weiter absinken lassen. In diesem Zusammenhang muss ich noch eine interessante, aber mehr als unglückliche Tatsache erwähnen: Ein Zustand fehlenden Gleichgewichts entwickelt sich Hand in Hand mit dem Wunsch, die Dinge mit unangemessener Hast zu erledigen. Der jeweils betroffene Mensch will auf diese Weise seinen zunehmenden Gleichgewichts- und Kontrollverlust ausgleichen. In der Tat kann ein solches Verhalten in Extremfällen sehr ausgeprägt sein. Bei einer solchen Person entwickelt sich zunächst nur eine Schwäche oder eine Schwierigkeit, die Auswirkungen auf das Gehen hat. Ohne sich einen Gedanken darüber zu machen, was die Ursache (oder die Ursachen) für ihre neu entdeckte Schwäche oder Schwierigkeit ist (sind), unternimmt sie als nächstes Versuche, „richtig zu gehen“, wie sie es nennen würde. Sie bemüht sich also ohne dieses leichte Schwanken, das sie bemerkt hat, zu gehen. Nur sind ihr Steuerungsempfinden und ihre allgemeinen geistig-körperlichen Koordinationsverhältnisse des Organismus gestört. Allein schon die Tatsache, dass sich diese Schwäche oder Schwierigkeit bilden konnte, ist dafür ein Beweis. Es ist deshalb nur logisch, dass ihre Versuche, „richtig“, d. h. schwankungsfrei zu gehen, gar nicht gelingen können. Sie werden nämlich nach denselben gestörten Empfindungen und mit denselben falsch koordinierten Mechanismen ausgeführt.

 

     Eines dürfen wir dabei nicht vergessen: Bei all diesen Erfahrungen nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ werden die Angstreflexe dieses Menschen übermäßig erregt. Er hat große Angst zu fallen und er hat Versagensängste, weil die geistig-körperlichen Prozesse, die er bei seinen unterbewusst gesteuerten Bemühungen verwendet, unzuverlässig und unbeständig sind. Wenn man diesen Prozess als Ganzes betrachtet, wird man erkennen müssen, dass sich höchst schädliche geistig-körperliche Bedingungen entwickelt haben, die sich bald auch in anderen Bereichen der geistig-körperlichen Funktionen zeigen. Und sehr oft steht am Ende der Entwicklung eine schwere Krise.

 

      Die Entwicklung eines Gleichgewichtsverlustes im „rein körperlichen“ Bereich, wie es für gewöhnlich gesehen wird, nachzuzeichnen, ist relativ einfach. Der hypothetische Fall eines Jungen soll uns hier als Illustration dienen. Nach den üblichen Kriterien würde man ihn als einen Menschen einstufen, dem das Gehen keine besonderen Probleme bereitet. Im Alter von ungefähr dreizehn Jahren, so die Annahme weiter, wird er schwerer verletzt, als ein Pferd ihn abgeworfen hat oder er eine Treppe hinunter gestürzt ist. Oder er hat einen anderen Unfall erlitten, der eine ärztliche Behandlung notwendig gemacht hat und aufgrund dessen er für einige Zeit ans Bett gefesselt ist. Ganz offensichtlich würden seine Verletzung und der erzwungene Verzicht auf seine normalen Aktivitäten bei dem Patienten einen mehr oder weniger geschwächten Allgemeinzustand, aber auch bestimmte spezifische Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den verletzten Teilen seines Organismus bewirken und negative Folgen haben. In dem psychologisch wichtigen Moment, wenn der Patient den ersten Versuch unternimmt, das Gehen wieder aufzunehmen, würden sich bestimmte Störfaktoren einstellen. Er würde sich dann auf der Stelle daranmachen, ihnen zu begegnen und versuchen, „richtig zu gehen“, so wie er gehen versteht. Seine „richtigen“ Gehversuche müssen allerdings zwangsläufig einer unterbewussten Planung nach „Versuch und Irrtum“ gehorchen. Es ist nämlich nahezu ausgeschlossen, dass er sich jemals irgendwelche Gedanken darüber gemacht hat, wie er geht, und dass er irgendeine Vorstellung von den notwendigen Steuerungsbefehlen hat, die jene Koordinationsverhältnisse herstellen, die so wesentlich für die Tätigkeit des Gehens und für die Entwicklung eines befriedigenden Gleichgewichts dabei sind." 

    

(Aus: F. M. Alexander, Bewusste Kontrolle beim Um- und Aufbau des Menschen)




Aktuelle Einträge
Archiv
Schlagwörter
Folgen Sie uns!
  • Facebook Basic Square
  • Twitter Basic Square
  • Google+ Basic Square
bottom of page