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Im Brennglas der Alexandertechnik: Sinnliche Wahrnehmung


Der Baum als Symbol der Alexandertechnik

Liebe Marie,

zur Einführung in das heutige Thema erzähle ich Dir dieses kurze Erlebnis: Ein kleines Mädchen hat an der Kasse nach Süssigkeiten gequengelt. Die Mutter schien sich davon aber nicht erweichen zu lassen. Deshalb bot ich dem Kind eine von meinen roten, duftenden, köstlichen Erdbeeren an und war zunächst überrascht, dass es ablehnte. Schnell wurde klar, warum das Kind die Erdbeere nicht wollte: Es wollte lieber die Süssigkeit, die die Mutter für es bereits gekauft hatte. Kaum war die Tüte bezahlt, wurde sie aufgerissen und daraus genascht. Warum also lief dem kleinen Kind nicht das Wasser im Munde zusammen, als ihm die süße Frucht angeboten wurde? Es mag durchaus vielerlei Gründe geben, über einen wichtigen will ich Dir heute schreiben: die verzerrte sinnliche Wahrnehmung.

Es muss sich im Laufe der Evolution ein Bedürfnis für die Schaffung der verschiedenen Sinne herausgestellt haben, sonst hätten sie sich gar nicht erst entwickelt. Es ist allerdings ein Kennzeichen unserer Zivilisation, dass diese Sinne mehr und mehr verzerrt, trügerisch gemacht, verdorben oder gar zerstört werden. So ist Sehen für immer mehr Menschen ohne Sehhilfe oft nur noch eingeschränkt möglich. Zudem nimmt die Entwicklung zum schlechten Sehen immer früher ihren Anfang. Nach dem Sehsinn ereilt als nächstem zur Zeit dem Hörsinn dieses Schicksal. Du kannst es leicht daran erkennen, dass die Anzahl der Geschäfte, die Hörhilfen verkaufen, in der Stadt deutlich zugenommen haben. Der Sinn jedoch, der sich als erstes entwickele sei der Geschmackssinn. Es sei auch der Sinn, der sich sehr schnell ausbilde und dem deshalb auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden müsse, das schreibt F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Erstübersetzung von MANS' SUPREME INHERITANCE. Wir können uns gut vorstellen, dass die Geschmacksvorlieben eines Kleinkindes sehr leicht zu manipulieren sind, was in der Tat auch von Anfang geschieht, wenn die Kinder nicht mehr gestillt und stattdessen mit den kleinen Gläschen von Hipp oder Alete ernährt werden, denen reichlich Zucker zugesetzt worden ist. Später ist der Geschmackssinn dermaßen verdorben, dass uns viele Lebensmittel gar nicht mehr schmecken, wenn ihnen keine Geschmacksverstärker zugesetzt worden sind.

Nun können Geschmacksverstärker, Brille und Hörgerät einen gewissen Ausgleich für die Funktionseinbußen von Geschmacksknospen, Augen und Ohren schaffen, ohne dass der Mensch wirklich gezwangen wäre, sich irgendwie zu verändern. Sehr viel dramatischer ist dahingegen das fast völlige Versagen der kinästhetischen Wahrnehmung. Das kinästhetische System sei (nämlich) in seine Einzelteile zerlegt worden, als der Mensch versucht hat, in Abhängigkeit von seinem unterbewusst kontrollierten Organismus von den niederen Stufen auf die höheren Stufen der Evolution zu gelangen. So hat es F. M. Alexander ebenda formuliert. Dramatisch ist dieses Versagen, weil der Mensch ohne kinästhetische Wahrnehmung nicht mehr fähig ist, selbst bei den einfachsten Handlungen die Lage der Teile des Körpers zu erkennen und die Größe der jeweils benötigten Muskelspannung abzuschätzen.

Und es gibt bis jetzt nichts, was die natürlichen kinästhetischen Erfahrungen ersetzen könnte. Was ist also zu tun? Wie können die Sinne wieder aktiviert werden? Wie kann sich insbesondere die kinästhetische Wahrnehmung wieder entfalten? Die Antwort der Alexandertechnik lautet: Eine bewusste Steuerung und Kontrolle muss die unterbewusste ersetzen! Das Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken ist bewusst zu steuern und zu kontrollieren. Und die 4-stufige Methode dazu wurde von F. M. Alexander entwickelt und erfolgreich erprobt. Auf der ersten Stufe ist von diesem Verhältnis eine Bewegungsvorstellung zu entwickeln. Auf der zweiten Stufe sind die falschen Vorstellungen bezüglich dieses Verhältnisses zu hemmen. Auf der nächsten Stufe werden die mentalen Befehle zu diesem Verhältnis bereitgestellt und auf der vierten Stufe schließlich ist es an dem Schüler, die Umsetzung dieser Befehle zuzulassen. (Marie, stell Dir aber bitte nicht vor, dass dies ein Nacheineander ist. Weil der menschliche Organismus eine geistig-körperliche Einheit darstellt, sind die vier Stufen alle miteinander verwoben und ein Gleichzeitig.)

Die Mittel-und-Wege dazu sind Steuerungsbefehle, Positionen mit einem mechanischen Vorteil, Lehrermanipulation und Geduld. Mit diesen Mitteln wird es gelingen, zunächst die kinästhetische Wahrnehmung wieder zu aktivieren und dann die Streckung der Wirbelsäule herbeizuführen und sie wieder flexibel zu machen. Und mit einer gestreckten und flexiblen Wirbelsäule, mit einer intakten Primärkontrolle also, nehmen alle Funktionen und Mechanismen des menschlichen Organismus, inklusive der Sinne, mit der Zeit auch wieder ihren Dienst vollständig auf. Wenn der Lehrer den Schüler in eine Position mit einem mechanischen Vorteil führt und ihn mit seinen Händen dann dazu anleitet, den Kopf nicht zurückzunehmen, die Wirbelsäule lang zu machen und den Rücken zu weiten, macht der Schüler dabei kinästhtetische Erfahrungen, die für die jeweilige Bewegung richtig sind und auf die er bewusst und ohne Bedenken wieder zurückgreifen kann. Diese neuen kinästhtetischen Erfahrungen verbinden sich in der Folge mehr und mehr mit den dazugehörigen

Befehlen zur Primärkontrolle. Wenn dann diese Befehle erneut aufgerufen werden, wird sich zeigen, dass die neuen kinästhtetischen Erfahrungen mit den vom Lehrer angeleiteten Bewegungen eine Symbiose eingegangen sind: Die Befehle führen so mit der Zeit zu den richtigen Bewegungen.

F. M. Alexander hat den Menschen wiederholt als eine belebte Maschine bezeichnet. Sind es die Sinneseindrücke, die die Maschine Mensch belebt? Mir scheint auf jeden Fall, dass der Mensch nur schwer ohne sinnliche Wahrnehmung leben kann. Wenn die Sinne abgestumpft werden, wie es offensichtlich unter den gegenwärtigen Bedingungen der Fall ist, sucht der Mensch von heute nach immer noch stärkeren Reizen, die seine Sinne erreichen können: Spezialeffekte im Kino, der Nervenkitzel von Kirmesattraktionen, Zucker- und andere Geschmacksbomben, berauschende Drogen, die durchaus als Verstärker für das noch vorhandene Niveau sinnlicher Wahrnehmung wirken können, die aber auf Dauer schwerwiegende Schädigungen des gesamren Organismus zur Folge haben, und vieles andere mehr können Belege dafür sein. Der Mensch merkt gar nicht, dass auf diese Weise die Sinne immer noch weiter abstumpfen, weil sie mit der Reizüberflutung nicht mehr fertig werden können.

Vielleicht, liebe Marie, sollten wirklich wir wieder lernen, dass uns schon bei der Vorstellung vom Geschmack einer Erdbeere das Wasser im Munde zusammenläuft.

Bis bald

Dein Großvater

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