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IM BRENNGLAS DER ALEXANDERTECHNIK: Über die Wahrnehmung der Veränderung


Liebe Marie,

der französische Philosoph Hernri Bergson (1859/1941) hat am 26. und 27. Mai 1911 in zwei Vorträgen an der Universität Oxford über "Die Wahrnehmung der Veränderung" gesprochen. Er stellt darin fest, dass "das Denken nur ein Notbehelf ist, wenn die Wahrnehmungsfähigkeit versagt." Und "Raisonnement (sei) dazu da, die Lücken in der Wahrnehmung auszufüllen und ihre Reichweite zu vergrößern." Erst die "Unzulänglichkeit unserer sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit (habe) die Veranlassung zur Entstehung der Philosophie - und, liebe Marie, ich möchte hinzufügen, zur Entstehung eigentlich aller anderen Wissenschaften - gegeben." Ein Gedanke, so abstrakt er auch sei, habe seinen Ausgangspunkt in einer Wahrnehmung. Und Henri Bergson fragt dann, ob es nicht sinnvoll sei "zur reinen Wahrnehmung zurückzukehren, sie zu erweitern und zu vertiefen."


"Dass eine Erweiterung unserer Wahrnehmungsfähigkeit möglich ist", werde allein schon durch die Kunst zuverlässig bestättigt. Nur sei es im Allgemeinen so, dass die praktischen Norwendigkeiten des Lebens unsere Wahrnehmung stark einschränkten, nämlich weitgehend auf das Feld eingrenzen, das den Bedürfnissen unseres praktischen Lebens entspricht. Unser Lebensalltag setze uns sozusagen Scheuklappen auf, die verhinderten, dass wir nach rechts oder links schauen. Wir blickten vor allem geradeaus in die Richtung, in die wir von unserem Leben gezwungen sind zu gehen. Aus dem Ganzen der Wirklichkeit isolierten wir mittels unserer Wahrnehmung von vornherein alles, was unserem Leben nicht von Nutzen sei: Kaum haben wir einen Gegenstand erblickt, haben wir auch schon ein Etikett darauf geklebt und ordnen es einer Kategorie zu.


Wenn es uns gelingen solle, die künstlichen Schemata zu beseitigen, die wir unbewusst zwischen die Wirklichkeit und uns selbst schieben, "gelte es, zur unmittelbaren Wahrnehmung der Veränderung und (des beständigen In-Bewegung-Seins) zurückzukehren. In der Wirklichkeit (gebe es nämlich) keine Unbeweglichkeit - wenn wir darunter die Abwesenheit von Bewegung verstehen. Die Bewegung ist vielmehr die Wirklichkeit." Henri Bergson sagt, dass Bewegung unteilbar ist und nimmt mit dieser Ausage 'Bewegung' zunächst als PARS PRO TOTO für Veränderung überhaupt, um dann zu sagen, dass "jede wirkliche Veränderung eine unteilbare Veränderung ist." Generell seien sowohl "die Veränderung in uns (als auch die Veränderung) in den Dingen kontinuierlich."


Wie sich der "Zustand unserer Person unaufhörlich verändere," so gebe es auch "keine Wahrnehmung, die sich nicht unaufhörlich ändere." Uberhaupt von einem 'Zustand' zu sprechen, sei tatsächlich nur unter dem Anschein der Unbeweglichkeit möglich. (Bergson gebraucht zur Untermauerung dieser Aussage das Bild zweier Züge, die mit gleicher Geschwindigkeit nebeneinander fahren. Bei den Passagieren in den Zügen erweckt dies den Eindruck, als ob die Züge stehen würden.) Den Prozess der dauernden Veränderung in 'Zustände' aufzustückeln, sei allerdings für die Praxis des Lebens durchaus nützlich, weil wir auf diese Weise in die Lage versetzt würden, auf die Dinge durch unser Handeln einzuwirken. Nur bliebe uns so die "wahre Wirklichkeit" verschlossen.


Materie löse sich tatsächlich in Aktivität - in Bewegung - auf. Dies zeige sich mit fortschreitender Wissenschaft immer mehr. Dieser Bewegung suchte die Wissenschaft seit jeher einen Träger zuzuweisen, ein Etwas, das in Bewegung versetzt ist. "In demselben Maße aber, wie (die Wissenschaft) fortschreitet, weicht jedoch der Träger zurück." Materie, als Masse gesehen, zerstäube in Moleküle, die Moleküle in Atome, die Atome in Elektronen oder Korpuskeln. Und auch "den Bereich unseres inneren Lebens" durchdringe das Prinzip der permanenten Veränderung auf substantielle Weise, als "eine Melodie, die von Anfang bis Ende unserer bewussten Existenz unteilbar weitergeht und (immer noch) weitergehen wird."


Unsere sinnliche Wahrnehmung, insbesondere der Gesichtssinn mit seiner visuellen Wahrnehmung, ist also unzulänglich, wenn sie sich darauf beschränkt, die einzelnen Dinge des Lebens punktuell wahrzunehmen; den Blick von einem Zustand zum anderen zu lenken, anstatt die Abläufe zu sehen; die einzelnen Geschehnisse ins Visier zu nehmen, anstatt das Geschehen in seiner Gesamtheit zu sehen; zu starren, anstatt seinen Blick schweifen zu lassen; ein Gefühl festhalten und reproduzieren zu wollen, anstatt im 'Meer der Gefühle' zu baden und neue Gefühle als etwas Wunderbares anzunehmen; sein Handeln nach Zielen auszurichten, anstatt zuallererst die Mittel und Wege zu bedenken, mit denen das jeweilige Ziel erreicht werden kann. Offensichtlich verhält sich das Sehen zum Gesichtsfeld wie die Stimme zu ihren Resonanzräumen: Je besser wir die inneren und äußeren Resonanzräume ausnutzen, umso klangvoller ist die Stimme (vgl. dazu: Michael McCallion THE VOICE BOOK) und je weiter das Gesichtsfeld, in das die Blickpunkte jeweils eingebettet sind, umso so authentischer das Sehen.


Damit aber noch nicht genug. Wir können unser Wahrnehmungsfeld noch beträchtlich erweitern, wenn wir zur Wahrnehmung unseres gesamten Gesichtsfeldes noch das hinzunehmen, was der Philosoph Henri Bergson den "Tastsinn" nennt und was F. M. Alexander den kinästhetischen Sinn genannt hat. Mit der Erweiterung unseres Wahrnehmungsfeldes um die Wahrnehmung von dem, wie wir bei unserem Handeln mit uns selbst umgehen, erhalten unsere visuellen Eindrücke eine zusätzliche äußerst wertvolle Qualität, die uns den tatsächlichen Gegebenheiten - der Wahrheit - sehr viel näher bringen.


Unsere innere und äußere Welt inklusive unserer Wahrnehmung ist einem beständigen Wandel unterworfen, so Henri Bergson. Jedes Ding und auch die Räume zwischen den Dingen verändern sich unablässig aus sich selbst heraus, ganz zu schweigen von den Veränderungen, die der Mensch in dieser schnelllebigen Zeit zusätzlich unablässig anstößt. Der Wechsel der Jahreszeiten, der Lauf der Sonne und des Mondes, Rost, Erosion, Wachsen und Vergehen in der Natur, die sich rasend schnell verändernden Modeerscheinungen u. a. m. sind äußere Merkmale dieser Veränderungsprozesse. Und auch der Mensch verändert sich fortlaufend, von der Wiege bis zur Bahre und sogar darüber hinaus. Und mit uns selbst unterliegen auch unsere Wahrnehmungen einem beständig Wandel, so dass der Mensch droht, im Treibsand der bestandigen allgemeinen Veränderung unterzugehen oder zumindest Schaden zu nehmen. Im aufgewühlten "Meer der beständigen Veränderungen" bietet jedoch die Alexandertechnik in den Stürmen des Lebens ein Rettungsboot, eine Rettungsinsel oder einen Rettungsring : Die Primärkontrolle. Wenn wir alles unterlassen, was das flexible natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken stört, werden wir auch durch den stärksten Sturm der Veränderung kommen, ohne dabei größeren Schaden zu nehmen oder gar darin umzukommen.


Bis bald

Dein Großvater


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