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Im Brennglas der Alexandertechnik: Sprechen


Liebe Marie,

der Roman "Die Entdeckung des Himmels" von Harry Mulisch erzählt von Quinten, der auf einem Schloß bei seiner Großmutter aufwächst und alles in sich aufsaugt, was es dort zu erfahren gibt, besonders wenn es sich um Fragen der Architektur handelt. Bis zu seinem dritten Geburtstag jedoch hat er noch kein Wort gesprochen. An diesem Tag kommt ihn auch sein Vater besuchen, ein viel beschäftigter Politiker, und Quinten führt ihn durch tiefes Gestrüpp zu dem Grabmal eines Rennpferdes, zeigt darauf und sagt sein erstes Wort: "Obelisk".


Dass Kinder erst sehr spät anfangen zu sprechen, ist auch ein Thema in der Westfälischen Rundschau vom 17. Juli 2021. Sprachverzögerung sei gar nicht so selten und überhaupt nichts Schlimmes. Statistisch seien bis zu 18 % der Kinder davon betroffen. Die Eltern könnten die Sprachentwicklung ihrer Kinder fördern, indem sie sich selbst mehr zurücknehmen, keinen unnötigen Druck aufbauen, sondern geduldig bleiben, dem Kind die Führung in der jeweiligen Kommunikationssituation überlassen und ihm die Ruhepausen gönnen, die es braucht, damit sich seine Gedanken in Sprache verwandeln können. Und die Eltern könnten selbst Freude am Ausdruck zeigen und diese Freude auch vermttteln. Einiges davon findet sich auch in dem Roman "Die Entdeckung des Himmels" wieder: Quintens Umgebung setzt ihn in keiner Weise unter Druck, sondern gibt ihm alle Zeit der Welt; sie nimmt ihn als Kommunikationspartner ernst; Herr Kern z. B. benutzt seine Gelehrtensprache, wenn er Quinten etwas erklärt. So ist es gar nicht verwunderlich, dass es zunächst zu einer Wort-Explosion (Obelisk) und dann zu einer wahren Explosion des Wortschatzes kommt.


Grundsätzlich stellt Sprachverzögerung also kein Problem dar. Anders verhält es sich z. B. mit dem Stottern. In "Der Gebrauch des Selbst" (BooksonDemand, 2021), der Neuübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE, beschreibt F. M. Alexander, was zu tun ist, um einen Menschen von seinem Stottern zu befreien. Dort heißt es u. a.: "Es war ganz offensichtlich für mich: Sein allgemeiner Selbstgebrauch war über die Maßen schädlich und ich bemerkte auch seinen falschen Gebrauch von Zunge und Lippen beim Sprechen und gewisse andere Defekte im Gebrauch seines Kopfes und seines Halses, u. a. ein unangemessenes Herunterdrücken des Kehlkopfes und eine übermäßige Anspannung der Gesichts- und Halsmuskeln. (.....) Im Falle dieses Schülers habe ich deshalb damit begonnen, dass ich ihm die verschiedenen auffälligen Symptome seines gewohnten falschen Gebrauchs aufgezeigt habe. Das Übermaß an Muskelspannung war eines der markantesten Symptome, die er aus Gewohnheit in seinem gesamten Organismus aufbaute, wann immer er zum Sprechen ansetzte. Diese extreme Muskelspannung war ein Störfaktor, der sich ganz allgemein auf die Funktionsweise seiner Mechanismen auswirkte. Sie machte einen zufriedenstellenden Gebrauch seiner Zunge und seiner Lippen tatsächlich unmöglich. Je mehr er durch eine besondere „willensmäßige“ Anstrengung ohne ein Stottern zu sprechen versuchte, umso mehr bewirkte er, dass die bereits übermäßige Muskelspannung weiter zunahm. Auf diese Weise musste er sich zwangsläufig selbst besiegen."


Um nun die Muskelspannung richtig abschätzen zu können, dürfe er sich aber nicht auf sein "Gefühl" zur Steuerung verlassen: "Wie könne er erwarten, fragte ich ihn, das Spannungsmaß mit seinem Gefühl abzuschätzen, das er beim Sprechen aufzuwenden habe, wenn er die sinnliche Erfahrung noch gar nicht gemacht habe, mit einem angemessenen Maß an Muskelspannung zu sprechen? Dies sei doch wohl offensichtlich: Eine Empfindung, die er nicht gehabt habe, könne er gar nicht „kennen“. Und weil eine sinnliche Erfahrung nicht mit Worten zu vermitteln sei, könnten ihm auch tausend Worte von meiner Seite die ihm unvertraute sinnliche Erfahrung nicht vermitteln, mit weniger Anspannung und ohne ein Stottern zu sprechen. Es gebe nur den einen Weg, ihn davon zu überzeugen, dass er sehr wohl mit weniger Muskelspannung sprechen könne: Es müsse ein Weg gefunden werden, auf dem er diese ihm unvertraute Erfahrung in sein Gefühlsverzeichnis aufnimmt." (ebenda)


Und diesen Weg zeigt die Alexandertechnik auf: Der Schüler erteilt sich die "Steuerungsbefehle zur Hemmung seines falschen gewohnheitsmäßigen Gebrauchs seiner Mechanismen", während der Lehrer "ihm die neuen sinnlichen Erfahrungen zum Gebrauch dieser Mechanismen, die mit diesen Befehlen übereinstimmen", mit seinen Händen" vermittelt. (ebenda) Allerdings ist der Lehrer nur solange dazu in der Lage, wie es dem Schüler gelingt, seine unmittelbare Reaktion zu hemmen: "In den frühen Phasen des Unterrichts, wenn bei einem Schüler der Gebrauch seiner Mechanismen noch völlig unbefriedigend ist, musste ich immer wieder feststellen, dass es dem Schüler nicht gelingt, seine alte instinktive Gebrauchssteuerung zu hemmen. In der Konsequenz konnten die Steuerungsbefehle für den neuen Gebrauch nicht zur Wirkung kommen. Noch bevor ich überhaupt eine Chance hatte, ihm zu helfen, wollte er schon in Übereinstimmung mit seinem gewohnheitsmäßigen falschen Gebrauch sein Ziel erreichen. Unter diesen Umständen ist es aber praktisch unmöglich, ihn daran zu hindern, sein Ziel auf seine falsche Weise anzugehen." Dies schreibt F. M. Alexander in der "Gebrauch des Selbst".


F. M. Alexander selbst war zunächst Rezitator. Auf der Bühne versagte ihm zuletzt regelmäßig die Stimme. Der eigenen Stimmprobleme Herr zu werden, war seine ursprüngliche Motivation, um sich auf die Suche nach dem WIE zu machen. Am Ende dieser langen Suche stand eine Technik, mit der indirekt nicht nur Stimmprobleme beseitigt werden können, sondern alle nur denkbaren Unzulänglichkeiten, schlechte Gewohnheiten und Krankheitsbilder.


Bis bald

Dein Großvater


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