Im Brennglas der Alexandertechnik: Seelische Widerstandskraft

Liebe Marie,

Resilienz - seelische Widerstandskraft - meint "die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung psychischer Gesundheit während oder nach stressvollen Lebensereignissen", wird dieser Begriff vom Mainzer Leibnitz-Institut für Resilienzforschung (LIZ) in einem Artikel der Westfälischen Rundschau vom 22. Dezember 2020 definiert. Und Resilienz könne "durchaus gefördert und trainiert" werden. Sie sei "das Endprodukt eines Anpassungsprozesses, der Stressfaktoren nicht etwa auslöscht, sondern den Menschen befähigt, effektiv mit ihnen umzugehen", heißt es in einer Veröffentlichung des LIR. Ein resilienter Mensch habe "die Fähigkeit entwickelt, seine Emotionen zu steuern, anstatt von ihnen gesteuert zu werden."

Nun ist es die allgemeine Methode von Wissenschaft und Forschung, sich ein Detail aus einem Gesamtkomplex herauszugreifen, um dieses Detail dann mit den wissenschaftlichen Methoden näher unter die Lupe zu nehmen. Der Biologe Claus Emmeche schreibt dazu in seinem Buch "Das lebende Spiel": "Die traditionelle Biologie war in ihrer Methode analytisch und untersuchte die materielllen Grundlagen des Lebens. Man hatte ein lebendiges Ding und nahm es auseineander, um zu sehen, aus welchen Teilen es bestand und wie diese Teile zusamenpassten. Dann versuchte man die Prinzipien ihrer Organisation zu erkennen. Schließlich zerlegte man die Teile, um zu sehen, woraus sie bestanden, und dann wieder deren Teile und immer so weiter. Diese Methode ist aber nur bis zu einem bestimmten Punkt brauchbar, weil das, was man beschreibt, plötzlich nichts Lebendiges mehr ist: Das Leben zerrinnt einem zwischen den Fingern."

Dem gegenüber ist die Vorgehensweise der Alexandertechnik eine völlig andere. In einer Fußnote in seinem Buch "Bewusste Konrolle beim Auf- und Umbau des Menschen", der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL (BooksonDemand, 2018) schreibt F. M. Alexander: "Die Basis meiner Philosophie und meiner Praxis ist die Einheit des menschlichen Potenzials. Bis jetzt hat man dieses Potenzial je nachdem als 'Körper', als 'Körper und Geist' oder auch als 'Körper, Geist und Seele' differenziert und dargestellt. Die Begriffe 'Geist' und 'Seele' sind uns ebenso geläufig, wie es auch das Wort 'Körper' ist. Wir machen uns aber alle schuldig, wenn wir sie verwenden. Wir wissen zwar einiges über den 'Körper', das greifbar und eindeutig ist. Aber was wissen wir wirklich über die 'Seele'? Und was wissen wir mehr über den 'Geist' als über die 'Seele?"

Widerstandskraft, als Hemmung bezeichnet, ist tatsächlich einer der Eckpfeiler der Alexandertechnik. Hemmung gehöre bei Tier und Mensch zu ihrem Erbe. Mit dem bewussten Einsatz dieser wunderbaren Kraft eröffneten sich dem Menschen aber zusätzliche Möglichkeiten, um ganz neue Erfahrungen zu machen, schreibt F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert", der Erstübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE (BooksonDemand, 2018). Laut D. Herrmann verhindert Hemmung die Erregung einer Nervenverbindung, obwohl ein Reiz eingetrofffen ist, und F. M. Alexander definiert Hemmung so: "Es ist der Vorgang, bei dem der Betroffene sich weigert, überhaupt auf den Impuls zu regieren, ein beliebiges Ziel zu erreichen."

Die anderen Eck- und Stützpfeiler der Alexandertechnik sind eine wieder aktivierte kinästhetische Wahrnehmung, ein in einer Weise veränderter Gebrauch, der das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken immer weniger stört, und eine bewusste Steuerung und Kontrolle aller Aktivitäten anstelle einer unterbewussten. Dies alles ist nicht von heute auf morgen zu erreichen. Es ist vielmehr ein lebenslanger Prozess, bei dem die einzelnen Pfeiler mit der Zeit immer stabiler werden, so dass alle Mechanismen, Systeme und Funktionen des menschlichen Organismus in ihrer Wirksamkeit mehr und mehr zunehmen, also auch die Resilienz, die der Ausgangspunkt für unsere Überlegungen war.

Bis bald

Dein Großvater