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IM BRENNGLAS DER ALEXANDERTECHNIK: Kinästhetische Wahrnehmung


Liebe Marie,

der Westfälischen Rundschau vom 5. Oktober 2021 war diese Nachricht nur eine einspaltige Randnotiz von 26 Zeilen wert: Der Nobelpreis für Medizin 2021 geht an zwei Wissenschaftler für ihre Forschungen "zur Hitze- und Druckwahrnehmung im menschlichen Körper". Sie hätten "bahnbrechende Entdeckungen zu den Rezeptoren für Temperatur und Berührung im menschlichen Körper"gemacht und erklärt, "wie Hitze, Kälte und mechanischer Druck die Nervenimpulse auslösen, mit denen wir die Welt wahrnehmen und uns an sie anpassen", heißt es in dem Artikel.


Die Sinneszellen, "die die Stellung der Körperteile und Gelenke zueinander genau registrieren", werden von lat. proprius - eigen "Propriorezeptoren" genannt, "weil sie nicht auf Reize von außen reagieren, sondern die eigene innere Welt repräsentieren. (..) Die Rezeptoren in unserem Bewegungsapparat sind in wichtige Regelkreise und Rückkoppelungsprozesse eingebunden, ohne die wir keine kontrollierten Bewegungen durchführen, ja noch nicht einmal stehen könnten, ohne umzufallen, heißt es bei S. Frings/F. Müller in BIOLOGIE DER SINNE (Spektrum Verlag, 2014). So könne ein Mensch bei einer fehlerhaften oder gar gänzlich fehlenden kinästhetischen Wahrnehmung bei den einfachsten Tätigkeiten des Lebens auch nicht mehr abschätzen, wie groß die Muskelspannung dafür sein muss. Seinem Gefühlsverzeichnis fehle es schlichtweg an Vergleichswerten, schreibt F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE.


"Der Begriff der KINÄSTHETIK, der zunächst die Lehre von den Bewegungsempfindungen meint, leitet sich ab von Kinästhesie, der Fähigkeit also, die Lage und die Bewegungsrichtung von Körperteilen zueinander und in Bezug zur Umwelt zu empfinden und zu steuern", heißt es in KINÄSTHETIK & KOMMUNIKATION (Kadmos Verlag, Berlin, 2013), herausgegeben von E. Porath und T. R. Klein. Dem Begriff sei von Anfang an der Aspekt der Wahrnehmung sowohl des eigenen Körpers im Raum als auch des Körpers in Bewegung implizit gewesen. Und weiter heißt es dort: "Die Steuerung eines materiellen Körpers verbraucht nicht nur Energie, sie ist auch keineswegs ohne den Austausch von Information über die Zustände, die in ihm herrschen zu bewerkstelligen. Kinästhetik und Kommunikation sind also unabdingbar miteinander verknüpft."


"Haben Sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, warum Verspannungen und schlechte Haltung im täglichen Leben eine so große Rolle spielen, und dies auch bei Menschen, die viel über Anatomie wissen, und bei solchen, die regelmäßig ihre Fitnessübungen machen? Tatsache ist nun einmal, dass man sich nur über etwas Gedanken machen kann, dessen man sich bewusst ist. Dass und wie Menschen ihre Gelenke falsch gebrauchen, kommt ihnen tatsächlich erst zu Bewusstsein, wenn die Gelenke schmerzen." So war es auf der Seite eines Lehrers der Alexandertechnik zu lesen. Nur ist dies, wenn "das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist", ein sehr später Zeitpunkt, um dem Fehlgebrauch entgegenzusteuern. Es wäre wohl sehr viel besser, das Kind gar nicht erst in den Brunnen fallen zu lassen.


Einen Brunnen kann man abdecken, aber wie kann man verhindern, dass jemand seine Gelenke falsch gebraucht? Um diese Frage zu beantworten, sollten wir uns zunächst einmal fragen, warum die Dinge überhaupt 'aus dem Ruder' laufen". F. M. Alexander hat im Laufe seiner Forschungen festgestellt, dass zwischen den Prozessen des individuellen Gebrauchs und dem Funktionsniveau des gesamten Organismus eines jeden Menschen eine sehr enge Beziehung besteht, "die vom Ganzen hin zu den Teilen wirkt". Und er konnte zum einen nachweisen, dass der Organismus tatsächlich als eine Einheit funktioniert und zum anderen, dass es "einen Kontrollmechanismus bei dieser Arbeistsweise des Organismus gibt, der - je nachdem ob er benutzt wird oder nicht - die einzelnen Funktionen zum Guten oder zum Schlechten hin beeinflusst." Dies schreibt F. M. Alexander in "Die Konstante im Fluss des Lebens" (BooksonDemand, 2019), der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING. Und weiter heißt es dort: "Eine Verbesserung der menschlichen Reaktionsweise" - so dass man gar nicht erst in den Brunnen fällt - "muss damit beginnen, dass die Vorstellungen und Glaubensinhalte über Bord geworfen werden, die mit den Gefühlen verknüpft sind, auf denen sich der Mensch bisher bei der Steuerung und Kontrolle seines Gebrauchs verlassen hat, wenn er seine jeweiligen Aktivitäten ausgeführt hat."


Ein Mensch muss also zunächst einmal bereit sein, seine althergebrachten Vorstellungen und Glaubensinhalte zu hinterfragen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass er sich für neue sinnliche Wahrnehmungen öffnen kann. Erst dann kann ein Alexandertechniklehrer die neuen sinnlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit einem veränderten Selbstgebrauch mit seinen Händen auf geeignete Weise vermitteln, weil "der Lehrer selbst in Besitz eines zuverlässigen sensorischen Apparats" ist (F. M. Alexander, Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (BooksonDemand, 2018).


Es sei tatsächlich nicht möglich, die richtigen Sinneserfahrungen, die mit dieser Technik erworben werden sollen, durch das geschriebene oder gesprochene Wort so darzustellen, dass daraus ein praktischer Nutzen gezogen werden könnte. Ein bekannter Wissenschaftler habe in diesem Zusammenhang einmal auf eine Anfrage erwidert: „Wir können eine kinästhetische Wahrnehmung nicht beschreiben, wie wir auch die Empfindung eines Klanges nicht beschreiben können. In der Musik kommen Noten als Symbole des Klanges zum Einsatz." Die kinäthetischen Wahrnehmungen aber müssen gemacht und erfahren werden, um sie als Beurteilungsgrunglage für den eigenen Gebrauch in das eigene Gefühlsverzeichnis aufnehmen zu können.


Bis bald

Dein Großvater












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