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Im Brennglas der Alexandertechnik: Imitation


Liebe Marie,

in seinem VOICE BOOK (Das Buch der Stimme, BooksonDemand, 2021/2022) erteilt Michael McCallion Sängern und Schauspielern den Rat, Instrumente, Tiere und vor allem andere Menschen nachzuahmen. "Von all den hier aufgeführten Imitationsprozessen ist das Studium der anderen Menschen das Studium, das die reichsten Früchte tragen wird. Wie schaffen es andere, ihre Stimmqualität als Reaktion auf einen Stimmungsumschwung oder eine andere Motivationslage zu verändern? Beeinflusst die Art der Arbeit, die ein Mensch zu vollbringen hat, die erzeugte Klangqualität? Welche Wirkung haben Alter, sozialer Status oder Gesundheitszustand eines Menschen auf die Stimme? - Sehen Sie als Teil des analytischen Prozesses vor allem auf die Matrix der Stimme selbst und nicht nur auf den Akzent und das Außergewöhnliche im Sprach-und Wortgebrauch!"


F. M. Alexander weist allerdings auf die Gefahren hin, die mit der Methode der Imitation verbunden sind. In „Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen“ (BooksonDemand, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL schreibt er: "Allem Anschein nach kommt der geistig-körperliche Prozess, den wir Imitation nennen, im Vergleich zu anderen fundamentalen Prozessen bei den Menschen in einem hohen Maße zum Einsatz. Wir erkennen auch bei unseren Mitmenschen Nachahmung, die wir als ein Talent ansehen. Die unterbewusste Imitation der charakteristischen Merkmale anderer ist ein Faktor, der bei Entwicklung und Wachstum des Menschen eine große Rolle gespielt hat (und weiterhin spielt). Und Imitation spielt auch beim Gebrauch unseres eigenen geistig-körperlichen Selbst eine entscheidende Rolle. Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass es eine natürliche Begabung und eine unterbewusste Neigung zur Imitation gibt. Und auch die schädlichen Konsequenzen, die durch Imitation bewirkt werden können, sind unbestreitbar." Tatsächlich seien die Ergebnisse beim Einsatz dieser natürlichen Begabung unter den Bedingungen der Zivilisation sehr oft überaus enttäuschend. Sie müssen enttäuschend, ja sogar schädlich sein, weil sich unter diesen Bedingungen bei "der Mehrzahl der Menschen mehr oder weniger große Schwächen herausgebildet" haben, die so extrem sind, dass man "bereits von einem Zustand der Deformation sprechen muss" und weil "der hauptsächliche Impuls zur Nachahmung von unserer bewussten oder auch unterbewussten Wahrnehmung einer sehr charakteristischen Auffälligkeit eines anderen Menschen ausgeht. Solche Auffälligkeiten sind aber in aller Regel geistig-körperliche Eigenarten oder Defekte. In allen Bereichen des täglichen Lebens ist die Gefahr heute sehr groß, dass das Individuum (vor allem) die Defekte anderer imitiert." Es seien "beispielsweise Eigenarten der Stimmqualität, bestimmte (fehlerhafte)Weisen, den Mund zu öffnen, die Arme zu gebrauchen, oder es sind Fehler beim Sprechen, bei der Stimmproduktion, beim Stehen, Gehen, Sitzen usw.“ Um aus der Methode der Imitation wirklich einen praktischen Nutzen ziehen zu können, müsste ein Mensch „erstens an der Person, die ihm als Vorbild dienen soll, sehr genau studieren, wie sie ihren geistig-körperlichen Organismus verwendet, weil die jeweiligen Charakteristika nur Ausdruck dieser Art des Organismusgebrauchs sind. Und zweitens wäre es notwendig, (den Imitator) so umzuschulen, dass er über denselben allgemeinen Gebrauch seines Organismus und über dasselbe Niveau beim Gebrauch dieses Organismus verfügen könnte wie (die Person, die) er zu imitieren sucht.“ Du siehst, liebe Marie, gegen die Methode der Imitation kann einiges ins Felde geführt werden. Gegen sie spricht, dass vor allem das nachgeahmt wird, was am meisten ins Auge sticht, was aber leider oftmals das ist, was nicht nachahmenswert, ja sogar schädlich ist. Dagegen spricht auch, dass es ein Trugschluss ist zu glauben, eine genaue Kopie des Originals läge im Bereich des Möglichen.


Wenn nicht durch die Methode der Imitation, wie sonst könnte ein Lernprozess in die Wege geleitet werden? - Die Position F. M. Alexanders ist eindeutig: Nicht "Versuch und Irrtum", nicht "Vormachen/Nachmachen", nicht Nachahmung werden dem Lernprozess gerecht. Ein solcher Prozess muss vielmehr mit einer bewussten Steuerung über die Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken geführt werden, nach dem Motto: Primärkontrolle gut - alles gut! Nur gilt es, dafür zunächst einmal einen gewaltigen Stolperstein aus dem Weg zu räumen: Die im Allgemeinen fehlerhafte sinnliche Wahrnehmung. Solange nämlich die sinnlichen Wahrnehmungen des Menschen fehlerhaft oder gar, wie im Bereich der kinästhetischen Wahrnehmung, kaum mehr vorhanden sind - dies ist geradezu das Kennzeichen der gegenwärtigen Zivilisationsverhältnisse -, nimmt der Einzelne gar nicht wahr, dass und wie er das natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken stört. Wenn er dann schließlich mehr und mehr wahrnimmt, wie sich die Relationen zwischen den verschiedenen Körperteilen zueinander darstellen, kann er im nächsten Schritt sein Verhalten hemmen, das diese Teile in eine falsche Relation zueinander bringt, um gleichzeitig sich selbst die entsprechenden Steuerungsbefehle zu erteilen, die indirekt die Dinge wieder geraderücken können.


Mit einem Gebrauch, der generell nicht das natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken stört, sind die besten Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Folgehandlungen auf der Basis eines solchen Gebrauchs ein gutes Ende nehmen. Und was die Imitation von Stimmen betrifft, die Michael McCallion für angehende Sänger und Schauspieler empfiehlt, kommt es ja auch gar nicht so sehr auf die Genauigkeit der Imitation an, sondern darauf auszuloten, zu was die Stimmen fähig sind, ohne dass sich die Sänger und Schauspieler dessen bewusst gewesen wären und ohne dass sie sich dabei selbst Schaden zufügen.


Bis bald

Dein Großvater


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