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IM BRENNGLAS DER ALEXANDERTECHNIK: Hemmung - Die Weigerung, auf einen Reiz zu reagieren


Liebe Marie,

manchmal scheinen Themen irgendwie in der Luft zu liegen. Der Artikel in der Westfälischen Rundschau vom 25. September 2021 über das Nett-sein hatte mein Interesse geweckt, weil es darin heißt, Nettigkeit könne dadurch dosiert werden, dass man "im richtigen Moment" Nein! sagt. Dieses Nein ist nicht nur ein Signal an die Außenwelt, es ist vor allem auch ein Signal an den 'netten' Menschen selbst, nicht von vornherein in seine gewohnte Rolle des Nett-seins zu verfallen, um so ggf. zu verhindern, dass er ausgenutzt wird.


Fast gleichzeitig hat sich der Alexandertechniklehrer Bruce Fertman zum Thema "Inhibition' (Hemmung) zu Wort gemeldet, um die Frage zu durchleuchten, was Hemmung (Inhibition) eigentlich ist. Er stellt in seinem Blog zunächst einmal fest, was es nicht ist. Es sei kein Stoppen, kein Pause einlegen, um dann weiter zu machen. Hemmung sei nicht temporal gemeint, es sei vielmehr etwas Neurologisches: Ein 'Ein' oder 'Aus'. Das Ein/Aus gelte insbesondere auch für die Elektrizität. Entweder fließe ein Strom oder nicht. Man schalte ihn ein oder aus. Diese Sichtweise von der Elektrizität sei auch unserem Nervensysstem sehr nahe. Das Ein/Aus gehe so schnell wie ein Fingerschnippen vonstatten.


Vor vielen Jahren habe er Erica W. einmal gefragt, was Hemmung (Inhibition) sei. Hemmung sei eine Entscheidung. Man entscheide sich dafür, nicht einer Lebensgewohnheit nachzugeben, hat sie geantwortet. Wenn ich mich für das eine entscheide, könne ich das andere nicht tun. Wenn man sich in einer mehr oder weniger schwierigen Situation dafür entscheide, erst einmal nicht zu reagieren - nicht zu kämpfen, nicht wegzulaufen, sich auch sonst nicht aus der Situation zu befreien, nicht herumzuzappeln, nicht aus dem Felde zu gehen, nichts zu wollen und nichts zu verfälschen, sondern einfach nur den Schalter auf 'Aus' stellt, wäre das nicht erst einmal genug? Wer wäre man dann und wie wäre man dann?


Es sei jedoch angesichts von schwierigen Situationen wie Krankheit und Schmerzen, nerviger Mitmenschen oder großer Angst gar nicht so einfach, die spontane Reaktion auf einen Stimulus zu hemmen. Ganz gleich wie lange man schon die Alexandertechnik in sein Leben integriert habe, reagiere man in solchen Situationen oftmals spontan und unbedacht, noch bevor man überhaupt auf den Gedanken gekommen ist, seine sofortige Reaktion erst einmal zu hemmen. Man müsse deshalb seine Kraft zur Hemmung durch beständige Einübung zunächst bei den einfachen Dingen des Lebens immer weiter kultivieren und stärken - beim Spazieren gehen, wenn man am Tisch sitzt, die Wäsche macht oder Geschirr spült. Auch Meditation könne hier hilfreich sein, um überhaupt erst einmal abschalten zu können. Nach der Einübung der Hemmung in einfachen Situationen sei man dann gut gerüstet, um sie auch in schwierigen Situationen einzusetzen. Das Konzept der Hemmung sei das, was uns über die Hürde bringt. Und dieses Konzept sei es auch, was die Alexandertechnik in ihrem tiefsten Inneren ausmache.


Hemmung ist also ein SINE QUA NON in der Alexandertechnik: In "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL bezeichnet F. M. Alexander die Fähigkeit zur Hemmung als eine der"wertvollsten Fähigkeiten" und als "die Hälfte unseres geistig-körperlichen Rüstzeugs". Und weiter schreibt er: "Hemmung liegt vor, wenn die Antwort auf einen Reiz oder auf mehrere Reize unterdrückt wird und so eine geistig-körperliche Handlung nicht angeregt wird. (...) Der Begriff Hemmung steht für die Kraft, die ein Tun unterbindet, es unterdrückt, es verhindert. Nicht mehr und nicht weniger!"


Hemmung ist jedoch kein Selbstzweck. Diese Kraft ist vielmehr eines der Mittel, mit dem ein fehlerhafter Selbstgebrauch, der früher oder später zu Schmerzen, Krankheit und Gebrechen führen wird, verändert werden kann. In "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE nennt F. M. Alexander die vier Stufen seiner Methode, mit der man lernen kann, sein Verhalten bewusst zu steuern und zu kontrollieren: "Zuallererst ist es notwendig, dass (der Schüler) ein klares Verständnis für die Fehler entwickelt, die beseitigt werden sollen. Prozesse, die er nicht versteht, werden nicht den geringsten Wert haben. Auf keinen Fall wird es genügen, nur stillschweigend die Behandlung zu erdulden. Vielmehr muss der Schüler das Prinzip vollständig bis ins letzte Detail akzeptieren. In einem nächsten Schritt muss ihm beigebracht werden, seine falschen Vorstellungen zu erkennen, die seine fehlerhaften Bewegungen zum Ergebnis haben, ganz gleich ob seine Vorstellungen nun bewusst oder unterbewusst sind. Ihm muss auch beigebracht werden, diese vorgefassten Ideen und den geistigen Impuls oder die geistigen Impulsserien, die aus diesen Vorstellungen entstehen, zu unterdrücken (zu hemmen), um sie schließlich ganz auszuschalten. Erst dann kann er die richtigen Steuerungsbefehle erteilen. (..............) Erst wenn diese im Denken des Schülers verankert und eingeübt worden sind, was mit Aufmerksamkeit und unter Anleitung durch einen Lehrer erreicht wird, kommen im vierten Schritt die beteiligten Muskeln in unterschiedlicher Kombination unter der Kontrolle einer bewussten Steuerung ins Spiel und die Serie gewohnter, unbedachter Bewegungen, die die Deformation des Körpers bewirkt hatten, kann durch überlegtes Handeln ersetzt werden."


Die Fähigkeit des Menschen zur Reaktionshemmung habe einen alles überragenden Wert, wenn es darum gehe, Veränderungen herbeizuführen, die das Selbst und den Selbstgebrauch des Menschen betreffen, dies schreibt F. M. Alexander in seinem vierten und letzten Buch "Die Konstante im Fluss des Lebens" (BooksonDemand 2019), der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING. Und weiter heißt es dort: "Für den Einsatz der Hemmung bedarf es der Einübung und der Bewusstheit. Das Gedächtnis ist gefragt, wenn man sich an die an der Technik beteiligten Verfahren und an die richtige Abfolge, in der sie eingesetzt werden müssen, erinnern will. Bewusstheit braucht man bei der Wahrnehmung des Geschehens. Beide Fähigkeiten werden im Laufe des Veränderungsprozesses selbst entwickelt und die Reichweite ihres Einsatzes dehnt sich darin allmählich aus. Die so erworbenen Erfahrungen helfen zum einen, das Gedächtnis zu entwickeln, und zum anderen wird eine Qualität des Gedächtnisses herausgebildet, die motorische, sensorische und mentale Erinnerungen miteinander verknüpft.


Man könnte also, liebe Marie, schlagwortartig die Dinge vielleicht so ausdrücken: Inhibition (Hemmung) ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Hemmung!


Bis bald

Dein Großvater



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