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Im Brennglas der Alexandertechnik: Glücklich sein


Liebe Marie,

was macht ein glückliches Leben aus? Wenn man die Menschen fragt, "hört man sehr viele Dinge, unter anderem auch die Vorstellung, dass Glück maßgeblich von der eigenen Gesundheit abhängt." So wird der Arzt und Neurowissenschaftler an der Universität Witten/Herdecke Tobias Esch in der Westfälischen Rundschau vom 28. September 2020 zitiert. Allerdings beeinflussen im Alter orthopädische Probleme, Tumorerkrankungen, kognitive Störungen, Depressionen und Einsamkeit in der Regel in erheblichem Maße die Gesundheit der Menschen. Dies erklärt in dem Zeitungsartikel Richard Dodel, der Leiter des Lehrstuhls für Geriatrie an der Universität Duisburg/ Essen. All dies seien Faktoren, die die Lebensqualität stark beeinträchtigen. In Kindheit und Jugend werde man darauf tatsächlich nicht vorbereitet.

Trotz dieser gesundheitlichen Belastungen könne man "seinem Glück auf die Sprünge helfen": Beziehungen pflegen, Sport treiben, sich mit jungen Menschen umgeben, sich auf sie einlassen, frische Luft tanken, sich mit neuen Dingen beschäftigen, Veränderungen positiv sehen, Humor und Gelassenheit zeigen werden in dem Zeitungsartikel explizit aufgezählt, um wenigstens zeitweise Momente des Glücks erleben zu können.

Aber sind 'Glücksmomente erleben' und 'Glücklich-sein' nicht zwei verschiedene Paar Schuhe? Kann man wirklich davon sprechen, glücklich zu sein, wenn Schmerzen und Krankheit beständige Begleiter unseres Alltags sind? Reicht es aus, sie durch entsprechende Mittel für einige Zeit auszuschalten, damit wir wenigstens hin und wieder 'Momente des Glücks' erfahren? Um darauf Antworten zu finden, ist es vielleicht hilfreich, einmal bei der Philosophie nachzufragen.

Wenn man sich die Entwicklung des Glücksbegriff von der Antike bis in die Jeztzeit ansieht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass dieser Begriff im Laufe der ZIvilisationsentwicklung doch stark verwässert und immer beliebiger geworden ist: Bei Platon ist Glück ein komplexes Zusammenspiel aus gerechtem Handeln und Streben nach Gesundheit, Anerkennung und ähnlichen Dingen. Zudem ist Glück mit dem Wunsch verbunden, ein 'guter Mensch' zu sein. Und was ein guter Mensch ist, daran werden strenge Maßstäbe gelegt. So sagt Sokrates, dass eine tugendhafte Lebensweise zum Glück führe. Bei Aristoteles stellt sich Glück automatisch und eher zufällig ein, wenn ein Mensch das machen kann, was seinem Wesen und seinem Charakter entspricht. Und Epikur hält fest, dass Glück nur möglich ist, wenn kein Schmerz vorhanden ist und eine Lust ausgelebt werden kann.

Heute kann man sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass Glück tatsächlich 'alles und nichts' sein kann: Glück sei ein Zustand, der mit positiven Gefühlen einhergehe, welche Zufriedenheit bewirkten; jeder Mensch habe seine eigene Vorstellung von Glück; die innere Lebenseinstellung und die äußeren Bedingungen beeinflussten das individuelle Glücksempfinden; entscheidend sei, welche Ziele angestrebt werden und wie mit den gegebenen Situationen umgegangen werde. So kann man es auf den verschiedenen Seiten im Internet nachlesen.

Glück soll also auch davon abhängen, "welche Ziele angestrebt werden". Eine solche Definition von Glück widerspricht dem, was F. M. Alexander für ein glückliches Leben hält. Im Anhang zu seinem wohl wichtigsten Buch "Der Gebrauch des Selbst" - eine Neuübersetzung von THE USE OF THE SELF wird bis zum Ende des Jahres 2020 auf dem Markt sein - schreibt er: "Das Ziel, für das die Schüler arbeiten, ist im Vergleich zu der Art und Weise, wie sie ihren Selbstgebrauch bei der Erreichung ihres Zieles steuern, von nebensächlicher Bedeutung."

Und Glück sei ein Zustand, der mit "positiven Gefühlen" einhergehe, ist heute oftmals zu hören. Nur ergibt sich an dieser Stelle ein nicht zu unnterschätzendes Problem: Die Gefühlswelt des Einzelnen. Dass nämlich die sinnliche Wahrnehmung des Menschen - sie bildet den Grundstock seiner Gefühlswelt - im Laufe des Zivilisationsprozesses Schaden genommen hat, wird F. M. Alexander nicht müde, in seinen Büchern festzustellen. So schreibt er dort: "Angesichts einer wenig zufriedenstellenden Anpassung des Menschen an die Anforderungen einer modernen Zivilisation, die im Allgemeinen auch gar nicht bestritten wird, ist die zunehmende Unzuverlässigkeit der Sinnesprozesse das Symptom. das am schwersten wiegt." Und zuvor heißt es: "In all den Fällen, in denen eine unzuverlässige sinnliche Wahrnehmung zu einer allgemeinen Fehlsteuerung beim Gebrauch der Mechanismen und zu nicht zufriedenstellenden Funktionsbedigungen geführt hat, kann jeder beliebige Stimulus einen Wahrnehmungsprozess in Gang setzen, der eine Reaktion als wirklich registriert, die weit von der tatsächlich erfolgten Reaktion entfernt ist."

Wer F. M. Alexanders Beurteilung der sinnlichen Wahrnehmung anzweifelt, dem wird die Richtigkeit seiner Einschätzung tagtäglich vor Augen geführt: Eine große Anzahl der Menschen kommt heute schon nicht mehr ohne eine Brille (oder Kontaktlinsen) aus. Zudem werden die Brillenträger immer jünger. Und auch die Notwendigkeit für ein Hörgerät nimmt augenscheinlich stark zu, denn nahezu alle bekannten Hörgerätehersteller vertreiben in vielen Innenstädten ihre Geräte.

Weil der menschliche Organismus, wie jeder andere Organismus auch, eine Einheit bildet, muss man davon ausgehen, dass neben dem Seh- und dem Hörsinn, bei denen die Schädigung durch die Seh- und Hörhilfen offen zutage treten, auch die anderen Sinne, insbesondere auch unsere kinästhetische Wahrnehmung, geschädigt sind. Tatsächlich könnte dies auch jeder sehen, wenn er mit offenen und geschulten Augen durch die Straßen unserer Städte ginge: Er würde sehen, wie verbogen, verspannt, versteift, krumm und schief viele der Menschen heutzutage sind; dass viele Menschen ein Hohlkreuz ausgebildet haben; dass die Knie und die Füße oftmals einwärts gedreht sind oder dass viele den Kopf einziehen oder sich einen Buckel machen. Dies alles hat seine Ursache u. a. darin, dass mittlerweile die Wahrnehmungssysteme des Menschen in der Regel alles andere als zufriedenstellend funktionieren. Von einer Gefühlswelt, die auf den Ergebnissen solch fehlerhafter Systeme der Wahrnehmung beruhen, soll nun abhängig sein, ob wir uns als glücklich einstufen können? Ist es wirklich klug, sein Glücksgebäude auf solchen Trugbildern aufzubauen?

F. M. Alexander hat uns demgegenüber ein Kriterium an die Hand gegeben, das als ein gutes Fundament für ein Glücksgbäude dienen kann: Ein Selbstgebrauch, der nicht in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreift. Ein solcher Gebrauch schafft die Voraussetzung dafür, dass wir wirklich glücklich sein können, und nicht nur das trügerische Gefühl haben, als ob wir glücklich wären. Mit Hilfe der Alexandertechnik können wir es schaffen, uns so zu gebrauchen, dass wir dieses natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken nicht länger stören.

Mit der Hemmung fehlerhafter Reaktionen auf einen Stimulus, mit der Wiederherstellung einer zuverlässigen sinnlichen Wahrnehmung und mit einer bewussten Steuerung und Kontrolle aller Systeme, Mechanismen und Funktionen unseres Organismus wird die Alexandertechnik tatsächlich zu einem Einfallstor zum Glück oder zu einer "Stairways to heaven".

Bis bald

Dein Großvater




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