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Im Brennglas der Alexandertechnik: Gehen


Liebe Marie,

die Redaktion SWR WISSEN hat ein Video mit dem Titel "Befreit die Füße" auf facebook eingestellt. Darin heißt es, durch Schuhe mit dicken Sohlen habe sich der 'Fersengang' entwickelt. Der belaste Knie und Hüfte. Barfuß-Läufer setzten den Vorderfuß zuerst auf. Das schone das Skelett beim Gehen und Laufen. Barfuß-Laufen stärke auch die Muskulatur. So hätten Barfuß-Läufer stärkere und stabilere Fußmuskeln. Zum Schluss des Videos wird der gute Rat erteilt: "Öfter mal Schuhe und Socken ausziehen und wieder laufen lernen!" - Aber Achtung: "Barfuß laufen muss man richtig lernen", heißt es im Untertitel.


Einen ersten Hinweis, wie Gehen und Laufen eigentlich funktionieren, erhalten wir von Laurie Anderson in ihrem Song "Walking & Falling". Sie beschreibt es darin so: "Du gehst; aber du nimmst gar nicht immer wahr, dass du dabei auch fällst - mit jedem Schritt fällst du unmerklich nach vorne; und dann fängst du dich auf, bevor du wirklich fällst; wieder und wieder fällst du und bewahrst dich davor hinzufallen; so kannst du gehen und fallen zur gleichen Zeit." Ob sich die Performance-Künstlerin von F. M. Alexanders MAN'S SUPREME INHERITANCE inspirieren lassen hat - die deutsche Erstübersetzung ist 2018 bei BooksonDemand unter dem Titel "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" erschienen -, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall hat er schon 1918 dort geschrieben:"Die gesamte Physiologie des Gehens (ist) tatsächlich erstaunlich einfach. Das Gehen wird einfach nur aufgelöst in diese beiden primären Bewegungsphasen: Man lässt den Körper von dem Fußgelenk aus, auf dem das Gewicht ruht, sich nach vorne neigen und übergibt dann das Gewicht dem Fuß, der nach vorne gebracht worden ist, um zu verhindern, dass man fällt. (...) Die positive Wirkung auf die gesamte Mechanik der betreffenden Person wird allein schon durch diese Tatsache belegt: Mit den koordinierenden Prinzipien, die durch meine Methode installiert werden können, ergibt sich für den Torso eine dauerhafte Tendenz, sich zu längen. Sie ersetzt die so geläufige Tendenz, dass der Torso sich aufgrund der fehlerhaften Standposition und der sich daraus ergebenden falschen Koordinationsverhältnisse verkürzt."


Diese Methode, so einfach sie auch erscheinen mag, sei aber leider nicht die, die normalerweise Verwendung finde. Fast jeder, den er untersucht oder den er beim Gehen nur beobachtet habe, verwende bei diesem Prozess eine unnötige Körperspannung, erklärt F. M. Alexander dort: "Sie lässt Wirbelsäule und Beine sich tendenziell verkürzen. Tatsächlich drückt sich der Betreffende sozusagen in den Boden hinein anstatt diesen Druck zu verringern, indem er seinen Körper lang werden lässt und indem er sein Gewicht nach vorne verlagert, was dazu führen würde, dass er sich leicht und frei bewegen könnte. (.....,) Auf der anderen Seite verwendet jemand, der gut koordiniert ist, gerade genug und nur so viel Spannung, dass sich Wirbelsäule und Beine tendenziell längen können. Das Gleichgewicht ist so, dass der unangemessene Druck in den Boden nicht vorhanden ist. In den Bewegungen eines solchen Menschen findet sich eine Leichtigkeit und Freiheit, die äußerst bemerkenswert ist." (ebenda).


Wenn man seinen Gang vom Fersen- auf den Vorderfußgang umstellen will, ist es also ganz offensichtlich nicht damit getan, "Schuhe und Socken auszuziehen und barfuß zu gehen". Wenn man das 'richtige' Gehen und Laufen lernen will, ist zuallererst der allgemeine Gebrauch so zu verändern, dass das natürliche Verhältnis zwischen Kopf, Hals und Rücken nicht dauernd gestört ist. In "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONRTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL heißt es dazu: "An erster Stelle muss dies stehen: Es darf einem Patienten erst dann erlaubt werden, praktische Experimente mit 'der richtigen Art des Gehens' anzustellen, wenn ihm die richtigen Erfahrungen im generellen Gebrauch der geistig-körperlichen Mechanismen vermittelt worden sind. Dies geschieht durch geschickte Manipulationen eines Lehrers, der sein Metier wirklich versteht. Und ebenso muss der Umschüler zuvor gut mit den richtigen Steuerungs- und Kontrollbefehlen vertraut sein, die ihm dabei helfen, die Mittel einzusetzen, mit denen er die Mechanismen bei jedem Versuch, richtig zu gehen, benutzen sollte."


Zudem ist das richtige Stehen zu erlernen, das der Ausgangspunkt für richtiges Gehen ist. In MAN'S SUPREME INHERITANCE schreibt F. M. Alexander dazu: "Die Standposition (..) ist aus physiologischer Sicht der Ausgangspunkt für das Gehen. Das Gewicht wird zum großen Teil auf den hinteren Fuß verlagert. So kann dann das andere Knie gebeugt und der vordere Fuß angehoben werden. Gleichzeitig sollte das Fußgelenk des hinteren Beines so gebeugt werden, dass sich der ganze Körper leicht nach vorne neigt. Auf diese Weise wird dann die treibende Energie der Schwerkraft ins Spiel gebracht." (Dabei sind) die Füße so zu setzen, dass sie als Basis und als Dreh- und Angelpunkt die größte Wirkung erzielen können. So wird die Lage von Armen, Beinen und Rumpf so verändert, dass sie von dort aus auf richtige Weise beeinflusst werden können und dass die Schwerkraft ihnen wirklich helfen kann. Hauptsächlich sollte das Gewicht des Körpers auf dem hinteren Fuß ruhen. Den Hüften sollte es erlaubt werden, so weit wie möglich zurückzufallen, ohne dass das Gleichgewicht, das von der Fußstellung bestimmt wird, verändert und ohne dass der Körper absichtlich nach vorne geschoben wird. Diese Bewegung beginnt bei den Knöcheln und hat insbesondere Auswirkungen auf die Fuß- und Hüftgelenke. Wenn der Körper sich nach vorne neigt, darf es keine Verbiegung der Wirbelsäule oder des Halses geben. Von den Hüften aufwärts muss die relative Lage aller Teile des Torsos zueinander unverändert bleiben. Wenn die Standposition dann eingenommen worden ist, ist es zudem notwendig, dass der Einzelne eine angemessene Längung seiner Wirbelsäule und eine ausreichende Weitung seines Rückens herbeiführt. Für das Letztere ist jedoch eine geeignete geistig-körperliche Ausbildung notwendig."

Eher so: Aber nicht so:

FOTOS AUS. MAN'S SUPREME INHERITANCE


Es sieht schon irgendwie tollpatschig, tapsig und abgehackt aus, wenn kleine Kinder in ihren Lauflernschuhen loslaufen und sich durch nichts und niemand aufhalten lassen wollen. Man kann dabei aber, liebe Marie, sehr gut das Nach-vorne-Fallen und das sich wieder Auffangen beobachten. Sie sind noch deutlich von einander getrennt, weil die koordinativen Fähigkeiten der Kleinen noch nicht so gut ausgeprägt sind, dass die beiden Phasen ineinander verschmelzen.


Bis bald

Dein Großvater


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