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Im Brennglas der Alexandertechnik: Facelifting


Liebe Marie,

das Interesse an "mehr Vitalität im Gesicht" hat in letzter Zeit sehr stark zugenommen. In einer Welt, in der der Mensch fast permanent unter Beobachtung steht - Homeoffice, Videokonferenzen und die Kameras im Handy und im öffentlichen Raum sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken -, ist der visuelle Eindruck, den man auf einen anderen Menschen macht, und auch der visuelle Eindruck, den mein Gegenüber am Bildschirm abgibt, immer wichtiger geworden. So liegen Oberlidstraffung, Lippen- und Nasenkorrekturen, die Entfernung von Tränensäcken, Faltenbehandlungen mit Skalpell oder durch Injektion - das Facelifting also - oder die Entfernung von 'Hüftgold' und Haartransplantationen voll im Trend, heißt es auf der Verbraucherseite der Westfälischen Rundschau vom 1.Juli 2021.


Das erfolgreichste Lifting-System ist jedoch im Leben selbst angelegt. Ohne eines solchen dem Leben inhärenten Systems wäre es der Kreatur überhaupt nicht möglich gewesen, sich vom Meeresboden zu entfernen. Gewürm und Getier in den Frühstadien der Evolution hätten kaum die Erdanziehung überwinden können, um vom Meeresboden in höhrere Gefilde aufzusteigen und schließlich das Meer zu verlassen und das Land zu erobern. Das Tier hätte sich nicht auf zwei Beine aufrichten und zu dem werden können, was heute die Krone der Schöpfung genannt wird: Der Mensch. Und auch die Pflanzen würden weiter über den Boden kriechen und nicht dem Licht zustreben können.


Beim Menschen allerdings ist die Ausrichtung nach oben im Laufe des Zivilisationsprozesses nicht nur mehr und mehr zum Erliegen gekommen, sie erfährt gegenwärtig sogar eine Umkehrung. Die Verhältnisse unter den Zivilisationsbedingungen verändern sich nämlich so schnell, dass dem Einzelnen nicht genügend Zeit bleibt, sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln einer unterbewussten Steuerung und Kontrolle an die sich so rasant verändernden Verhältnisse ohne Schaden anzupassen. "Die Entwicklung des Menschen aus dem Naturzustand auf die Stufe der Zivilisation vollzog sich so langsam, dass in den frühen Phasen der Entwicklung weder bedeutende Schwierigkeiten auftraten, noch gab es außergewöhnliche Veränderungen, die es wert wären, hier erwähnt zu werden. Der Mensch war sich nämlich dieser Veränderungen gar nicht bewusst. Und seine Gewohnheit, sich auf solche Sinneswahrnehmungen zu verlassen, die im frühen Menschheitsstadium oder im Stadium der unterbewussten Führung vorherrschend waren, blieb auch weiterhin bei seinen Erfahrungen mit der Zivilisation fest verankert. Sein Handeln wurde von seinen Stimmungslagen oder seinem Gespür geregelt. Und auch heute noch geht, spricht, sitzt, steht und vollbringt der Mensch die zahllosen mechanischen Tätigkeiten des täglichen Lebens, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, welche körperlichen und geistigen Prozesse daran beteiligt sind. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Ergebnisse als völlig unzureichend herausgestellt haben. Die Nachteile einer individuellen, schlechten Gewohnheit wie auch die Vorteile einer guten Gewohnheit zeigen sich nicht unbedingt nach einem Tag oder einer Woche, vielleicht noch nicht einmal nach einem Jahr. Und auch die Auswirkungen der Gewohnheiten einer ganzen Gesellschaft, die ich jetzt beschreibe, haben sich über zahllose Jahrhunderte weitgehend unbemerkt entwickelt. Nur hat sich das Übel in den letzten hundert Jahren so stark ausgeprägt, dass sich die Auswirkungen selbst in den Mittelpunkt gedrängt haben. Mehr und mehr wird auf breiter Front das eklatante Versagen der unterbewussten Steuerung in einer modernen Zivilisation erkannt." Dies schreibt F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der Erstübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE. Allein die Methode der bewussten Steuerung und Kontrolle vermöge es, uns an die Verhältnisse der Gegenwart anzupassen, weil "wir die Stufe der Evolution, auf der wir dem Tier gleich waren, hinter uns gelassen haben und nie wieder dorthin zurückkehren können".


Erschlaffte Oberlider, die Bildung von Hautfalten im Gesicht oder an anderen Stellen, Tränensäcke oder der Speckansatz an Hüfte, Oberarmen oder Oberschenkeln sind Ausdruck einer inzwischen fehlenden grundsätzlichen Ausrichtung nach oben, die im Menschen mit den sich allzu schnell verändernden Zivilisationsverhältnissen unter einer unterbewussten Steuerung und Kontrolle verlorengegangen sind. Mit einer Ausrichtung nach oben aber - ausgehend von der Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses zwischen Kopf, Hals und Rücken - bleiben auch die Gesichtshöhlen - die Mund-, Nasen-, Stirn- und Augenhöhlen - weiter geöffnet. Und die Weit geöffneten Gesichtshöhlen sorgen dafür, dass die Gesichtshaut nicht vorzeitig und über die Maßen erschlafft, sondern sehr viel länger gestrafft bleibt.


Nicht anders verhält es sich mit den Gelenkspalten zwischen den verschiedenen Knochen: Mit der generellen Ausrichtung nach oben durch eine bewusste Steuerung und Kontrolle bleiben sie so weit geöffnet, dass sich zum einen die Gelenke nicht übermäßig abnutzen und zum anderen sich nicht die berüchtigte 'Orangenhaut' z. B. an Oberschenkeln oder Oberarmen bildet. Und auch der vorstehende Bauch ist ursächlich und primär auf eine Störung des natürlichen Verhältnisses zwischen Kopf, Hals und Rücken zurückzuführen: Wenn die Wirbelsäule gestaucht wird, drückt dies die Bauchmuskeldecke aus ihrer angestammten Position. Die Bauchmuskeln können ihre Funktion als Atemstütze nicht mehr gut wahrnehmen und erschlaffen mehr und mehr, was Tür und Tor für die Anlagerung von Fettgewebe geöffnet.


Das erfolgreiche Lifting-System, das im Leben selbst verankert ist, im einzlnen Menschen wieder so in Gang zu setzen, dass er seine "geistige, seelische oder körperliche Balance" (ebenda) wiederfindet, ist das grundsätzliche wichtige Anliegen der Alexandertechnik. Damit wird der Mensch nicht nur befähigt, die "weitreichenden und schnellen Reformen in den Bereichen Religion, Moral, Politik, Sozialem, Erziehung oder beim Einsatz der Arbeitskraft des Menschen in der Industrie" (ebenda) so umzusetzen, dass er daran keinen Schaden nimmt. Er erhält sich so auch seine Koordination, Beweglichkeit, Dynamik und Spannkraft bis ins hohe Alter - und das ohne sich selbst Botox oder Hyaluron unter die Haut zu spritzen, wie es offenbar augenblicklich in Mode kommt.


Bis bald

Dein Großvater



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