top of page
Empfohlene Einträge

Im Brennglas der Alexandertechnik: Der Kopf führt


Liebe Marie,

mit dem Text "Über das Marionettentheater" von Heinrich von Kleist hat damals Prof. Stöcker die Sportstudenten in die Geheimnisse der Bewegungslehre eingeführt. Darin heißt es, dass jede Bewegung einen Schwerpunkt habe und dass es genüge, beim Puppenspiel diesen Schwerpunkt im Inneren der Figur zu regieren. Den Boden brauche eine Marionette nur, um ihn zu streifen und den Schwung der Glieder durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben. "Ebenmaß, Beweglichkeit und Leichtigkeit" seien ihr grundsätzlich zu eigen. Weil der Puppenspieler mit seinen Fäden immer nur den "Schwerpunkt der Bewegung in seiner Gewalt hat, sind alle übrigen Glieder, wie sie sein sollen, tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere."


Hier ist es der Puppenspieler, der mit seinem Geschick am Spielkreuz den Bewegungen der Marionette ihre natürliche Grazie verleiht. Der Mensch, der dabei ist, Grazie, Ebenmaß, Beweglichkeit und Leichtigkeit sehr früh schon in seinem Leben zu verlieren, kann sie aber durchaus wiedererlangen, wenn er lernt, bei allem, was er tut, seinem Kopf die Führung zu überlassen. Wenn der Kopf die Wirbelsäule in die Länge und den Rücken in die Breite führt, wird nämlich der Schwerkraft eine Energie entgegengesetzt, die die Wirkung der Gravität aufhebt oder zumindest begrenzt. Die Balletttänzer Nurijejew und Baryschnikow sind herausragende Beispiele dafür.


Die Marionnette braucht den Puppenspieler, um zum Leben erweckt zu werden. Der Mensch hat sein Leben mit den Möglichkeiten, die seine Selbststeuerung ihm bietet, selbst in der Hand. Wie auch der Puppenspieler, der die Vielfalt der Bewegungen seiner Marionnette mit den wenigen Fäden an seinem Spielkreuz steuern kann, braucht auch der Mensch nur an wenigen "Fäden" zu ziehen, um Herr über seinen gesamten Organismus zu werden: Die Primärkontrolle ist das Spielkreuz des Menschen. Mit ihr kann er im täglichen Leben bei allem, was er tut, das Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken beständig so steuern und kontrollieren, dass sein Tun bei ihm selbst nicht nur keinen Schaden anrichtet, er alles, was er tut, auf hohem und höchstem Niveau geschieht.


Wie auch der Puppenspieler im Normalfall die Handhabung des Spielkreuzes nach allen Regeln der Kunst erlernt hat, muss auch der Mensch erst wieder lernen, das Spielkreuz seines Lebens, die Primärkontrolle, wirkungsvoll und bewusst zu bedienen. Er muss dies im Normalfall neu erlernen, weil unter der Schelllebigkeit unserer gegenwärtigen Zivilisationsbedingungen die ihm angeborene unterbewusste Steuerung und Kontrolle nicht mehr genügt, um sein Handeln so zu steuern, dass er sich selbst keinen Schaden zufügt, wenn er sich selbst gebraucht. Und es gibt inzwischen auch seit mehr als hundert Jahren eine Schulung, mit der die Bedienung des "Spielkreuzes des Lebens" erlernt werden kann: Eine Schulung mit der Alexandertechnik.


Um die Primärkontrolle über das Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken ausüben zu können, muss der Mensch überhaupt erst einmal wahrnehmen, dass er in dieses Verhältnis schädlich eingreift, dass er seinen Hals versteift, seinen Kopf ein- und zurückzieht, seine Wirbelsäule verkürzt und seinen Rücken eng macht. Deshalb besteht ein wesentlicher Teil der Arbeit mit der Alexandertechnik zunächst darin, die kinästhetische Wahrnehmung wieder zu aktivieren, die dem Menschen im Laufe des langen Zivilisationsprozesses mehr und mehr abhandengekommen ist. Erst die reaktivierte kinästhetische Wahrnehmung schafft nämlich die Voraussetzung dafür, dass er seine falschen Verhaltens- und Reaktionsweisen hemmen kann, wie es in der Fachsprache der Alexandertechnik heißt, um dann daran zu gehen, seinen allgemeinen Gebrauch, bei dem er immer weniger in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken schädlich eingreift, neu auszurichten und aufzubauen. Bei einem solchen Gebrauch führt in der Tat der Kopf. Er führt die Wirbelsäule in die Länge und den Rücken in die Breite. Und mit der Führung des Kopfes erscheinen auch wieder 'Grazie, Ebenmaß, Beweglichkeit und Leichtigkeit' in den Bewegungen des jetzt gut koordinierten und neu aufgebauten Menschen.


Bis bald

Dein Großvater


Aktuelle Einträge
Archiv
Schlagwörter
Folgen Sie uns!
  • Facebook Basic Square
  • Twitter Basic Square
  • Google+ Basic Square
bottom of page