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Im Brennglas der Alexandertechnik: Der Dualismus von Körper und Geist


Liebe Marie,

der Philosoph und Naturwissenschaftler Klaus Michael Meyer-Abich hat 2010 in seinem Buch die Begriffe Gesundheit und Krankheit philosophisch einordnet. "Der Dualismus von Körper und Geist ist von Descartes in seinen Meditationen (1641) so beschrieben worden, dass der Mensch aus einem denkenden, empfindenen und fühlenden Bewusstsein (res cogitans) und einem materiellen Körper (res extenso) zusammengesetzt sei." Für die Ärzte, die diesem Weltbild Descartes' folgen, "ist der Körper ein autonomes System." Dies habe zur Folge, dass "sich der Mensch Krankheiten nicht selbst zurechnet": Man ist nicht selbst krank, sondern man hat nur eine Krankheit. Aktuell hört man sehr oft: "Ich habe Rücken. Ich habe Schulter oder ich habe Knie." Oder noch aktueller ist das Virus COVID-19, das uns derzeit von außen bedroht. Krankheit, von außen hervorgerufen durch Parasiten, Viren, Bakterien, ererbte Gene, ist der Feind, den es zu bekämpfen gilt. Die cartesianische Medizin, so Meyer-Abich weiter, missachtet dabei die anderen pathogenen Faktoren, die für Gesundheit ganz entscheidend sind: Den Gemütszustand, das soziale Umfeld und die gesellschaftlichen Bedingungen.

Wie Meyer-Abich kritisiert auch F. M. Alexander die Aufspaltung des Organismus in Körper und Geist, die dazu geführt hat, dass Krankheit weitgehend nur mit den Mitteln behandelt wird, die der Medizin derzeit zur Verfügung stehen: Medikation, Verschreibung von Anwendungen, Operation, Bestrahlung und neuerdings vermehrt auch Einbau von Ersatzteilen. In "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2019), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL schreibt F. M. Alexander: "Als der Mensch sich darum bemühte, all die Probleme zu lösen, die ein Leben in der Zivilisation mit sich brachte, (.....) hat er auf sehr willkürliche Weise versucht, seinen geistig-körperlichen Organismus in die drei Teile aufzubrechen, die er als Körper, Geist und Seele definiert hat. Einen beliebigen Organismus in seine Einzelteile zu zerlegen und dann zu erwarten, dass dieser auch weiterhin zufriedenstellend funktioniert, ist ja wohl ein Vorschlag, wie er unvernünftiger nicht sein könnte. Wir können ja auch nicht erwarten, die besten Ergebnisse zu erzielen, wenn wir bei irgendeiner Maschine das Getriebe von seinem Motor und vom Steuerungsmechanismus trennen."

"Die Diskrepanz der heutigen Lebensverhältnisse zu unserem naturgeschichtlich leiblichen Entwicklungsstand spiegelt sich darin, dass einerseits unsere somatischen Krankheiten zum größten Teil auf Bewegungsmangel beruhen bzw, durch regelmäßige Bewegung vermieden werden könnten, anderseits die psychischen Krankheiten seit langem zunehmen." Dies schreibt K. M. Meyer-Abich in seiner 'Die Philosophie der Medizin'. Nur ist die augenblickliche Situation weitaus verzwickter, als sie bei Meyer-Abich dargestellt wird: Weil der Mensch im Laufe des Zivilisationsprozesses seine kinästhetische Wahrnehmung weitgehend verloren hat, kann er nicht mehr spüren, ob die Art und Weise ihn nicht schädigt, wie er sich in der Bewegung und auch in der Ruhe gebraucht. Dies hat dazu geführt, dass sehr viele von uns inzwischen die Gewohnheit entwickelt haben, sich falsch zu gebrauchen, und so ihrem Selbst - der Gesamtheit von Körper, Geist und Seele - teilweise erheblichen Schaden zufügen.

Wie verzwickt sich die Situation derzeit darstellt, kann sehr gut an dem von Meyer-Abich angeführten Beispiel des Lesens aufgezeigt werden. Er schreibt: "In der Regel lesen wir nicht mehr laut, d. h. wir sprechen das Gelesene nicht mehr mit körperlichen Bewegungen (der Muskeln und Gelenke), sondern überlassen dies den nicht leiblich gefühlten elektronischen Prozessen im Gehirn." Nun ist es aber leider so, dass wir uns auch beim Sprechen weitgehend falsch gebrauchen, dass wir dabei den Kopf zurückziehen, den Hals anspannen, den Kehlkopf niederdrücken, den Mund mit Muskelkraft öffnen, anstatt den Unterkiefer zum Öffnen des Mundes einfach herunterklappen zu lassen und anderes mehr. Jedes Mal, wenn wir die Mechanismen zum Sprechen auf diese Weise verwenden, schaden wir uns mehr oder weniger. Unter diesem Gesichtspunkt kann es also in der Tat klüger sein, nicht das Kluge zu tun. Eine Situation, so paradox wie der Satz: "Ein Kreter sagt, alle Kreter lügen." Das Paradoxon kann aber durchaus aufgelöst werden: Wenn wir gelernt haben, unsere Aktivitäten bewusst zu steuern können auch die Sprechwerkzeuge so kontrolliert werden, dass es nicht zu einem schädlichen Eingriff in die Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken kommt.

F. M. Alexander geht in "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" noch auf ein weiteres Problem ein: Nach Aufspaltung des Organismus in Körper, Geist und Seele sei es evolutionsgeschichtlich auch sehr schnell zu einer Hierachisierung gekommen. "Innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums (wurde) den sich schnell entwickelnden Prozessen, die unter dem Begriff des 'Geistigen' zusammengefasst wurden, der Vorrang vor dem 'Körperlichen' im menschlichen Haushalt eingeräumt. (........ ) Auch die Pädagogik habe diese hierarchische Struktur aufgegriffen, so dass "Kenntnise in einigen ganz spezifischen Bereichen darüber entscheiden sollten, ob jemand nun als gebildet oder ungebildet zu gelten habe. Ein Mensch konnte durchaus ein verehrter Mittelpunkt der Gesellschaft sein und über ein hohes Maß an gesundem Menschenverstand verfügen. Wenn er aber nicht zufällig in all dem Brimborium versiert war, aus dem die Lehrpläne der Universitäten und Schulen unserer Zeit bestehen, würde er trotzdem als ungebildet gelten. Was als nächstes folgte, war die dümmste aller Vorstellungen, die die unterbewusst gesteuerte Menschheit im pädagischen Zusammenhang entwickeln konnte: Eine mehr oder weniger, aber immer noch wachsende Geringschätzung für diejenigen, die trotz ihrer wertvollen natürlichen Anlagen als ungebildet eingestuft werden; und besonders eine geringe Wertschätzung für Menschen, deren Arbeit aus Sicht der Pädagogik größere Anforderungen an den sogenanntten körperlichen Teil als an den sogenannten geistigen Teil ihrer Persönlichkeit stellten. Hinzu kommt noch eine völlig absurde und übertriebene Bewunderung für all jene, die in Berufen arbeiten, in denen, wie man vermutet, die Anforderungen fast auschließlich "geistiger' Natur seien."

Gestern erst ist dieses Problem auf 'facebook' zu einem Thema gemacht worden: Dort kamen drei junge Leute zu Wort, die von ihren persönlichen Erfahrungen und den Vorurteilen erzählt haben, die ihnen entgegengebracht worden sind: Ein Studienabbrecher, der jungen Menschen das Backen beibringt, eine Schulabbrecherin, die für einen Weltkonzern arbeitet und ein Werbemann, der zum Startup-Gründer wird. Diese Wortbeiträge belegen auch, wie hochaktuell das von F. M. Alexander oben Gesagte ist.

Eine von den Dreien ist Magdalena Rogl. Als sie klein war, habe sie einen Traum gehabt: Sie wollte Kindergärtnerin werden. Es habe sie nicht losgelassen. "Nach der zehnten Klasse bricht sie das Gymnasium ab und beginnt ihre Ausbildung. 'Natürlich gab es Kritik aus der Familie und leider auch von Freunden', sagt Rogl. Ihre Noten sind gut, ein Abitur das natürliche Ziel, zumindest sehen die anderen das so. Rogl sieht das nicht so. Denn da ist ja der Traum. Sie arbeitet als Kindergärtnerin, wird mit 19 schwanger und nach einigen Jahren nochmal. Sie lebt mit ihrer kleinen Familie in München und alles ist gut, bis es nicht mehr gut ist. Der Vater ihrer Kinder trennt sich von ihr. Rogl ist Mitte 20, plötzlich alleinerziehend – und knapp bei Kasse in der teuren Stadt. Mit einem Nebenjob bessert sie nach Feierabend ihr Erzieherinnen-Gehalt auf: Sie moderiert Kommentarspalten im Internet. Es läuft gut, sie steigt auf. Ihre psychologischen Kenntnisse als Erzieherin helfen ihr. Irgendwann ist sie in Vollzeit für die Community verantwortlich. Sie bildet sich abends weiter und wechselt in die Unternehmenskommunikation. Heute arbeitet sie für den Tech-Riesen Microsoft und verantwortet dort die digitalen Kanäle in Deutschland. Rogl ist 35 und wieder liiert. Ihr Mann hat zwei weitere Kinder in die Familie mitgebracht. Fast eine kleine Kita-Gruppe. Doch ihr Weg dahin war nicht leicht. 'Ich habe bei Bewerbungen sehr viele sehr schlechte Erfahrungen gemacht', sagt Rogl. Die Gesellschaft sollte eigentlich weiter sein, findet sie, und fragen, was jemand kann und nicht welche Zeugnisse er hat. 'Das Leben ist ein viel wichtigerer Lehrer als die Uni.' "

Deine Geschichte, liebe Marie, und die eines Menschen, die Du und ich sehr gut kennen, passen doch auch in die Reihe dieser Erfahrungsberichte, oder?

Bis bald

Dein Großvater

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