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Im Brennglas der Alexandertechnik: Propriozeption


Liebe Marie,

warum können wir im Normalfall unsere Nasenspitze bei geschlossenen Augen problemlos mit dem Zeigefinger berühren? Es gibt Sinneszellen in Muskeln und Gelenken, die die Stellung der Körperteile und Gelenke genau registrieren und an das Gehirn übermitteln. Sie haben den Namen Propriozeptoren (von lat. proprius für eigen) erhalten, weil sie die innere Welt des Individuums darstellen, die ihm zu eigen ist. "Die Rezeptoren in unserem Bewegungsapparat sind in wichtige Regelkreise und Rückkopplungsprozesse eingebunden, ohne die wir keine kontrollierten Bewegungen durchführen, ja noch nicht einmal stehen könnten." So wird die Propriozeption in dem Sachbuch 'Biologie der Sinne' von Stephan Frings/Frank Müller beschrieben.

Die Propriozeption trägt zudem maßgeblich zum Aufbau unsres 'Körperschemas' bei. "Wir entwickeln unser Köperschema bereits als Kind. (..) Indem das Kind von Geburt an agiert und mit seiner Umwelt interagiert, entwickelt es einen Rahmen von körperlichen Fähigkeiten, aus denen das Körperschema entsteht. Wir aktualisieren unser Körperschema beständig entsprechend unserer Handlungen oder Erfahrungen. Je mehr wir es erweitern, desto besser können wir unsere Bewegungen im Raum kontrollieren. (........) Der Aufbau unseres Körperschemas ist ein langer Prozess. Ein kleines Kind verfügt noch nicht über eine genaue Vorstellung über seinen Körper. Sein Gehirn muss erst lernen, die propriozeptiven und visuellen Informationen zu verbinden. (....) Das perfekt strukturierte Gehirn eines Erwachsenen verfügt schließlich über eine Vielzahl organisierter Vorstellungen von Bewegung und Aktion. (...) Im Alter von 23 Jahren besitzt ein junger Erwachsener eine vollständig ausgebildete Vorstellung von den Möglichkeiten seines Körpers. (........) Dies ist keine bewusste Vorstellung. Mit jeder Handlung, bei der wir unsere Propriozeption einsetzen, erweitern und verändern wir unbewusst unser Körperschema. (...) Jüngste Studien zeigen allerdings, dass wir unsere Propriozeption auch bewusst einsetzen können........ Dies sind Abschnitte aus dem unterlegten Kommentar zu dem Film 'Unser geheimer 6. Sinn' von Vincent Amouroux.

Ein anderer Begriff für Propriozeption spielt in der Kybernetik eine wichtige Rolle spielt: Die Kinästhesie. "(Es ist) die Fähigkeit, die Lage und Bewegungsrichtung von Körperteilen zueinander und in Bezug zur Umwelt zu empfinden und zu steuern." Und der Begriff Kinästhetik meint "die Lehre von den Bewegungsempfindungen im umfassenden Sinn. Von Beginn an ist dem Begriff dabei der Aspekt der Wahrnehmung sowohl des eigenen Körpers im Raum als auch des Körpers in Bewegung implizit. Die Propriozeption erscheint dabei immer in Beziehung zum umgebenden Raum und zur Bewegung des Körpers in ihm - es geht letztlich darum, die leibliche Wahrnehmung durch Bewegung im Raum für therapeutische Zwecke zu mobilisieren, also eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu ermöglichen." (So kann man es nachlesen in: Porath/Klein, KINÄSTHETIK UND KOMMUNIKATION, Kadmos Verlag, Seite 19.)

Die Vorstellung von der Bewegung determiniert also die Bewegung. und die Vorstellung wird bestimmt von der Propriozeption oder, wie es F. M. Alexander ausgedrückt hat, durch die kinästhetischen Wahrnehmungen und Erfahrungen. Wenn man sich nun die Körperschemata so vieler Menschen in unserer Zivilisation genauer anschaut, muss man allerdings den Schluss ziehen, dass ihre kinästhetischen Wahrnehmungen nicht stimmig gewesen sein konnten und sich falsche Vorstellungen zum Körperschema - oder in der Sprache der Alexandertechnik - vom Gebrauch entwickelt haben müssen. Seinen Schüler mit verlässlichen propriozeptiven, sprich kinästhetischen Informationen zu versorgen, ist deshalb eine der zentralen Aufgaben eines Alexandertechniklehrers. Mit solchen verlässlichen Informationen können sich zunächst die Vorstellung für und dann auch die richtige Primärkontrolle entwickeln.

Noch einmal: Die Vorstellung macht das Körperschema. Und die Vorstellung von der Bewegung macht erst die Bewegung möglich. Diese Vorstellungen seien prinzipiell unbewusst, heißt es in dem Film 'Unser 6. Sinn'. Sie könnten aber auch bewusst gemacht werden. Es wird gezeigt, wie Piloten einer Flugstaffel schwierigste Figuren und Formationen am Himmel meistern können, weil sie vorher durch ein entsprechendes Training die entsprechenden Vorstellungen von den feinsten Finger- und Handbewegungen am Steuerknüppel und das richtige Timing dieser Bewegungen entwickelt haben. Hier werden also direkt die ausführenden Finger und Hände über die entwickelte Vorstellung vorprogrammiert.

Die Alexandertechnik geht indirekt vor, wenn sie zunächst einmal die Vorstellung von der Primärkontrolle des natürlichen Verhälnisses von Kopf, Hals und Rücken entwickelt, die durch die Angliederung weiterer Elemente des sogenannten Körperschemas an diese Primärkontrolle nach und nach Unterstützung erfährt. Die dazu geeigneten Verfahren der Alexandertechnik lassen den Schüler eine Vorstellung von dem entwickeln, was es heißt, "den Hals frei zu lassen", "den Kopf nach vorne und oben zu nehmen", die Wirbelsäule zu längen" und "den Rücken zu weiten". Mit der sich nach und nach konkretisierenden Vorstellung davon kann der Schüler sie dann mehr und mehr realisieren und allen seinen Aktivitäten vorschalten.

Jetzt wird auch deutlich, was F. M. Alexander mit dem Begriff 'NON-DOING', mit dem 'NICHT-TUN' gemeint hat: Die jeweilige Vorstellung von der jeweiligen Aktivität wird erst einmal nicht in das dazugehörige Tun umgesetzt. Die Ausführung des Tuns wird vielmehr gehemmt, wie es in der Sprache der Alexandertechnik heißt. Dies erlaubt es, zunächst die Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken zu aktivieren und das Tun an diese Primärkontrolle anzukoppeln.

In dem Film 'Unser 6. Sinn' heißt es, dass es weltweit augenblicklich nur fünf Personen gibt, denen die Fähigkeit zur Propriozeption vollständig abhanden gekommen ist. In diesem Film kommt eine Frau zu Wort, die die Grenzen zwischen ihrem Selbst und dem Raum, der sie umgibt, nicht mehr propriozeptiv wahrnehmen kann. Ohne die Kontrolle über die Augen gelingt es ihr z. B. nicht, den Löffel zum Mund zu führen oder mit dem Kugelschreiber auf dem Papier zu bleiben. Ja, sie schafft es noch nicht einmal, den Stift auf dem Tisch zu halten. Wie gesagt, sind solche Menschen derzeit an den Fingern einer Hand abzuzählen. Der Normalfall ist ein anderer: Die unterbewusste propriozeptive Wahrnehmung - eine kinästhetische Wahrnehmung, die nur unterbewusst ist - genügt bei vielen Menschen schon lange nicht mehr den Anforderungen, die unsere zivilisierte Welt an sie stellt.

Die Schwerkraft ist die alles bestimmende Kraft in unserer Welt und irgendwie gelingt es uns schon, mit den Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft umzugehen. Nur ist das jeweilige Ergebnis in vielen Fällen nicht mehr zufriedenstellend. Wir kämpfen viel öfter gegen die Schwerkraft, als dass wir sie zu unserem Nutzen einsetzen und sie für unsere Zwecke arbeiten lassen. Harmonie, die Koordination der verschiedenen Teile des Körpers miteinander, eine symmetrische Ausrichtung des Körperschemas bleiben bei dem Einzelnen oftmals auf der Strecke, mit dem Ergebnis, dass, wie bei einem windschief gewordenen Haus auch, vermehrt "Reparaturen" anfallen. Für die Reparaturen im und am Haus gibt es die Handwerker, für die 'Reparaturen' beim Menschen sind Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken,Therapeuten u. a. zuständig, die aber im Allgemeinen eher nur das konkrete Problem behandeln und nicht grundsätzlich dafür sorgen, dass es gar nicht erst oder nicht wieder zu den Problemen kommt.

Mit einer nur schwach entwickelten kinästhetischen Wahrnehmung (Propriozeption) nimmt der Einzelne gar nicht oder kaum wahr, dass und wie windschief sein 'Haus' inzwischen geworden ist. Und er nimmt auch nicht wahr, was er auch weiterhin dafür tut, dass es windschief bleibt oder sogar noch windschiefer wird. Mit den Verfahren der Alexandertechnik wird nun die kinästhetische Wahrnehmung zum einen aktiviert und auf eine verlässliche Basis gestellt. Und zum anderen wird gleichzeitig das 'Haus' so umgebaut, dass es seine Windschiefheit nach und nach verliert und wieder zu einem harmonischen Ganzen wird, in dem alle Teile des Organismus zum Besten des Ganzen zusammenarbeiten.

Bis bald

Dein Großvater

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