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Im Brennglas der Alexandertechnik: Partielle Gesichtslähmung


Liebe Marie,

die folgenden Szene stammt aus Florian Henckel von Donnermarcks Film "Werk ohne Autor". Elisabeth und Kurt sind ein Liebespaar. Nun ergibt es sich, dass die zukünftigen Schwiegereltern von Kurt ein Zimmer zu vermieten haben. Kurt bewirbt sich um das Zimmer und stellt sich persönlich bei Elisbeths Eltern vor. Es kommt es zu dem folgenden Gespräch:

Frau Seeband: "Karl, hier ist ein Mieter für das Zimmer. Kommst du 'mal."

Herr Seeband: (bleibt auf halber Treppe stehen; sieht sich den Bewerber genauer an) "Das ist ja 'facialis', Facialisparese. Partielle Gesichtslähmung mit herabhängenden Mundwinkeln. Hattest du einmal einen Unfall? Oder eine Borreliose?"

Frau Seeband: "Mein Mann ist Arzt aus Leidenschaft. Da bekommt man schon einmal eine Gratisdiagnose."

Herr Seeband: "Du solltest es aber untersuchen lassen."

Die Gesichtsmuskeln werden über den NERVUS FACIALIS versorgt, der, wie die anderen Hirnnerven auch, eine Besonderheit aufweist: "Er entspringt nicht im Wirbelkanal, sondern verlässt das Gehirn über knöcherne Aussparungen an der Schädelbasis." So kann man es auf der Internetseite des 'Netzdoktors' (www.netdoctor.at) nachlesen. Wird der NERVUS FACIALIS nach Austritt aus der Schädelbasis geschädigt - durch virale oder baketrielle Infektion, durch einen Tumor oder bei einem operativen Eingriff etwa -, spricht man von einer 'periphären Fazialisparese', im Gegensatz zu einer 'zentralen Fazialisparese, wenn der Nerv vorher geschädigt worden ist. Und mit der Bezeichnung 'Bell`sche Parese' wird umschrieben, dass sich die Medizin die Hälfte bis zwei Drittel aller periphären Gesichtslähmungen nicht erklären kann.

Als Folge einer Fazialisparese "kann der Gesichtsausdruck nicht mehr gesteuert werden. Ein Runzeln der Stirn, der Lidschluss, das Artikulieren von Lippenlauten, Lachen, Zähne zeigen oder Pfeifen sind nicht oder nur eingeschränkt möglich. Auch die Muskelgrundspannung, der Tonus, ist herabgesetzt, so dass die betroffene Gesichtshälfte sichtbar schlaff nach unten hängt. Darüber hinaus können Probleme beim Essen und Trinken auftreten". Diese beruhten einerseits auf einer verminderten Speichelproduktion und auf der anderen Seite auf der verminderten Spannung der Wangenmuskulatur. So werden die Auswirkungen beim 'netdoctor' beschrieben. Und Herr Seeband - Prof. Seeband, wie er in dem Film 'Werk ohne Autor' nicht müde wird zu betonen - nennt in diesem Zusammenhang zudem noch die herabhängenden Mundwinkel.

Wenn man heute die Gesichter der Menschen nach den oben beschriebenen Symptomen absucht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass das Krankheitsbild Fazialisparese nicht einmal so selten in unserer Gesellschaft ist. 'Cool' sein ist trendy. Weil man aufgrund dieses Trends seine Gefühle nicht mehr so zeigen darf, sind die mimimischen Gesichtsmuskeln aus Gewohnheit bei nicht wenigen mehr und mehr stillgelegt worden, die Gesichter sind zur Maske erstarrt. Und die herabhängenden Mundwinkel sind zu einem wahren Kennzeichen einer weit verbreiteten Frustration in der Konsumgesellschaft geworden.

Die Medizin behandelt die idiopathische Fazialisparese mit dem Hormon Kortisol: "Die bislang einzige Therapie, welche die Chancen auf eine Erholung des Nervs (...) nachweislich erhöht, ist die kurzfristige Gabe von Kortikosteroiden." In 70 % der Fälle sei diese Behandlung erfolgreich. Um die sekundären Symptome abzumildern, werden z. B. auch Augentropfen und Augensalbe empfohlen. Und wenn es gar nicht anders geht, sei es auch möglich, durch einen chirurgischen Eingriff "den funktionslosen Nervus facialis zu durchtrennen und an einen anderen Nerv anzuschließen, der noch unbeschädigt ist.

Wie bei jedem Defekt, jeder Krankheit oder jeder Störung ist die Vorgehenesweise der Alexandertechnik indirekt. Nicht die einzelne Störung oder der einzelne Defekt werden behandelt, vielmehr werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Systeme, Mechanismen und Funktionen des menschlichen Organismus allmählich wieder auf hohem Niveau arbeiten, so auch die Funktion des N. facialis. Grundlage für ein erfolgreiches Arbeiten all dieser Systeme, Mechanismen und Funktionen ist es, dass sie an die richtige Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken angeschlossen sind, so wie auch ein Haus an den Hauptentwässserungskanal angeschlossen sein muss, wenn die Fundamente des Hauses nicht unterspült werden und Nässe und Fäule nicht in die Mauern kriechen sollen.

Wenn in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken auf schädliche Weise eingegriffen wird, wenn unterbewusst der Kopf zurückgezogen, die Wirbelsäule verkürzt und der Rücken eng gemacht werden, kann es leicht passieren, dass der N. facialis dort, wo er aus dem Schädel austritt, anschwillt und es zu den Funktionsstörungen mit den entsprechenden neurologischen Ausfällen kommt, von denen der 'Netzdoktor' oben schreibt.

Dass der Gebrauch der Gesichtsmuskeln, der Zunge und des Unterkiefers im menschlichen Organismus nicht nur eine kleine Nebenrolle spielt, hatte auch F. M. Alexander erkannt und ein spezielles Verfahren entwickelt, um ihren Gebrauch mit der Primärkontrolle und der Atmung zu verknüpfen: "Das geflüstere Ah." Mit diesem Verfahren werden ausdrücklich Impulse an die Gesichtmuskeln zum Lächeln, an die Zunge, an den Unterkiefer und an die Bauchmuskeln - sie kommen beim Flüstern zum Einsatz - gesendet.

Wenn z. B. der Stimulus 'Lächle!' den N. facialis wieder ungehindert erregen kann, weil nicht länger das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken gestört und so dieser Nerv nicht länger eingequetscht wird, aktiviert er all die mimischen Muskeln, die für ein echtes Lächeln gebraucht werden. "Beim Lächeln mit geöffneten Lippen und Exposition der Zähne (obere und untere Zahnreihen) werden die verschiedenen Muskelgruppen um die Mundöffnung "konzertiert" in Anspruch genommen. Es wirken gleichzeitig oberlippenhebende, unterlippensenkende und mundwinkelanhebende Muskelgruppen, während der Mundringmuskel (Orbicularis oris-Muskel) weitestgehend entspannt ist. Die Innervierung der verschiedenen Muskelgruppen wird von unterschiedlichen Nervenästen aus verschiedenen Astgruppen des N. fazialis bereitgestellt." So kann man es im Internet auf der entsprechenden Seite nachlesen.

Auch die Zunge wird indirekt über den Nervus facialis sensibel versorgt: "In den vorderen zwei Dritteln übernimmt die sensible Versorgung der Nervus lingualis, ein Ast des Nervus trigeminus (Nervus V). Die speziell-viszerosensiblen Fasern, welche die sensorischen Reize transportieren, sind diesem Nerven nur angelagert und stammen - via Chorda tympani - vom Nervus facialis (Nervus VII)", heißt es auf einer Seite im Internet. So sorgt der Stimulus "Die Zunge hinter der unteren Zahnreihe!" dafür, dass der Nerv erregt und dass "die Geschmacksempfindung in den vorderen zwei Dritteln der Zunge" wieder ermöglicht wird, sofern seine Funktion nicht gestört ist.

Und auch der Unterkiefer hat über den N. trigeminus eine Verbindung zum N. facialis, wie aus der entsprechenden Seite im Internet hervorgeht: "Der Nervus mandibularis wird in einigen Fällen auch als sogenannter Unterkiefernerv bezeichnet. Dieser Begriff hat seinen Ursprung in dem lateinischen Wort Mandibula, was so viel wie Unterkiefer bedeutet. Dabei ist der Nervus mandibularis eng mit dem fünften Hirnnerv verbunden. Dieser Hirnnerv gliedert sich in drei Hauptäste auf, wobei der Nervus mandibularis den dritten Ast darstellt. Der fünfte Hirnnerv trägt die medizinische Bezeichnung N. trigeminus und wird oftmals lediglich mit seiner Abkürzung V3 bezeichnet. Dieser Nerv ist in erster Linie für die nervliche Versorgung des unteren Bereichs des Gesichts sowie der Zunge zuständig. Dabei steht der Nerv in Verbindung mit den motorischen Fasern der entsprechenden Areale. Aus diesem Grund ist er unter anderem an der Steuerung jener Muskulatur beteiligt, die für Bewegungen des Mundbodens sowie des Kauapparates mitverantwortlich ist."

Für die Aktivierung der Bauchmuskeln zum Flüstern sind dann andere Nerven zuständig, auf die ich hier und heute, liebe Marie, nicht näher eingehen will. Bestimmt werde ich aber demnächst Gelegenheit haben, tiefer in die faszinierende Welt der Nerven einzutauchen.

Zum Ende des Films 'Werk ohne Autor' wird Prof. Seeband noch mit seiner schändlichen Vergangenheit im Nationalsozialismus konfrontiert. Er reagiert darauf nicht nur mit einer partiellen Fazialisparese, sondern sozusagen sogar mit einer Ganzkörperparese: Mit verzerrtem Gesicht, völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, verlässt er torkelnd das Atelier seines Schwiegersohns. (Hut ab vor der schauspielerischen Leistung Sebastian Kochs.)

Bis bald

Dein Großvater

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