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Im Brennglas der Alexandertechnik: "Mindful Running"


Liebe Marie,

in der Westfälischen Rundschau vom 23. April 2020 und in verschiedenen anderen Printmedien des gleichen Tages propagiert Sandra Gärttner von der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement das "Mindful Running". Mit bewusstem Joggen soll es möglich sein, die Körperwahrnehmung der Läufer zu verbessern und ihr Verletzungsrisiko zu mindern. Die Läufer sollten ihre Aufmerksamkeit gezielt auf das richten, "was sie sehen, hören, riechen und spüren". Wer das achtsame Laufen ausprobieren wolle, könne mit dem eigenen Atmen anfangen: "Wie strömt der Atem in den Körper hinein und wie wieder heraus." Man könne sich auch auf den Takt der Schritte konzentrieren und dann vielleicht auf die Füße: "Wie setzen sie auf, wie rollen sie ab." Dies sind einige der Beobachtungsansätze, die in dem Artikel in meiner Tageszeitung aufgezählt werden.

Dass die "Körperwahrnehmung" oder die kinästhetische Wahrnehmung, wie sie in der Alexandertechnik genannt wird, unbedingt zu verbessern ist, könnte jeder sehen, der Jogger beim Laufen beobachtet. So unterschiedlich die Laufmuster der einzelnen Läufer sind, lassen sie doch erkennen, dass die Art und Weise, wie sich die Läufer allgemein selbst gebrauchen, sehr zu wünschen übrig lässt: Mit jedem Schritt stören sehr viele von ihnen die Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken.

Vom Laufmuster auf einen allgemeinen falschen Gebrauch und eine falsche Funktionsweise zu schließen, ist nicht bloß eine Hypothese, sondern wird durch die Erfahrungen belegt, die F. M. Alexander gemacht hat. In seinem Werk THE USE OF THE SELF - eine Neuübersetzung ins Deutsche wird Anfang 2021 bei BooksonDemand unter dem bekanntenTitel "Der Gebrauch des Selbst" erscheinen - schreibt er: "Diese unbefriedigenden Reaktionen manifestieren sich dann als 'Symptome' oder Defekte, als sogenanntes 'geistiges' oder 'moralisches' Versagen, als Störung und als Krankheit. Wenn diese vorhanden sind, kann dies durchaus als ein Indiz dafür genommen werden, dass im gesamten Organismus ein falscher Gebrauch und eine falsche Funktionsweise anzutreffen sind."

Wenn Sandra Gärttner die "Körperwahrnehmung" des Einzelnen als verbesserungswürdig einstuft, sagt sie damit indirekt auch, dass diese Wahrnehmungen in der Regel unzuverlässig, trügerisch und falsch sind. Wenn der Fall so liegt, ist es doch sehr wahrscheinlich, dass die verschiedenen Wahrnehmungssysteme weiterhin nur die unzuverlässigen Sinneseindrücke liefern, die sich in unser Bild von uns selbst und von der Welt einfügen. Um Sinneseindrücke zu erhalten, die verlässlich, wahr und richtig sind, ist folglich die sinnliche Wahrnehmung zu verändern.

So stellt sich die Frage, wie Gebrauch und Funktionsweise und mit ihnen die sinnliche und insbesondere die kinästhtetische Wahrnehmung verändert werden können. Das Verfahren, das

F. M. Alexander in langen Selbstversuchen dafür entwickelt hat, ist grob in fünf Schritte unterteilt, die aber sehr eng miteinander verzahnt sind: "One after the other, all together" (Einer nach dem anderen, alle zusammen) ist in der Alexandertechnik fast zu einem geflügelten Wort geworden.

Schritt 1: Jede unmittelbare Reaktion auf den Stimulus, eine bestimmte Aktivität auszuführen, ist zu hemmen.

Schritt 2: Die Steuerungsbefehle für die primäre Kontrolle sind in der richtigen Reihenfolge zu erteilen.

Schritt 3: Die Steuerungsbefehle sind solange auszusenden, bis die jeweilige Person so vertraut mit ihnen ist, dass sie diese Befehle für die Aktivität wirklich benutzen kann.

Schritt 4: Noch während die Steuerungsbefehle für den neuen Gebrauch projiziert werden, ist ein Stoppzeichen zu setzen, um bewusst die erste Entscheidung zu überdenken. Es sind etwa die folgenden Fragen zu beantworten: 'Soll ich jetzt wirklich den nächsten Schritt tun, um das Ziel zu erreichen, das ich mir vorgenommen habe? Oder soll ich es nicht tun? Oder sollte ich mir ein anderes Ziel vornehmen?' - Und erst dann und dort ist eine neue Entscheidung zu treffen, wie mit dem ursprünglichen Ziel zu verfahren ist.

Schritt 5: Wenn das ursprüngliche Ziel nicht weiter verfolgt werden soll, sind weiterhin die Steuerungsbefehle zu erteilen, die den neuen Gebrauch aufrechterhalten, und die ursprüngliche Aktivität ist nicht auszuführen.

Wenn das Ziel verändert und stattdessen irgendetwas anderes getan werden sollte, sind weiterhin die Steuerungsbefehle zu erteilen, die den neuen Gebrauch aufrechterhalten, und die letzte Entscheidung, etwas anderes zu tun, kann in die Tat umgesetzt werden.

Wenn nach diesen reiflichen Überlegungen das ursprüngliche Ziel weiter verfolgt werden soll, sind weiterhin die Steuerungsbefehle zu erteilen, die den neuen Gebrauch aufrechterhalten, und die ursprüngliche Aktivität kann ausgeführt werden.

Im 1. Kapitel von THE USE OF THE SELF beschreibt F. M. Alexander detailliert, wie sich dieses Verfahren nach und nach herausgeschält hat. Schritt 4 habe ich hervorgehoben, weil dort der Knackpunkt aufgezeigt wird, an dem er so lange daran gescheitert war, die primäre Veränderung seines Verhaltens zu erhalten, wenn er tatsächlich zum Sprechen angesetzt hat. Erst mit diesem vierten Schritt ist es ihm gelungen, seine ererbte instinktive Steuerung auszuhebeln, die seinem Erfolg im Wege stand: "Seit den ersten Anfängen der menschlichen Entwicklung und des menschlichen Wachstums ist nämlich die instinktive Steuerung die Steuerungsform gewesen, mit der der Mensch überhaupt in Erfahrung gekommen ist. Vielleicht müssen wir sie ja in diesem Sinne deshalb zu unserem Erbgut zählen", schreibt er dort.

Die Erfahrungen, die F. M. Alexander mit diesem 5-Schritt-Verfahren selbst gemacht hat, haben gezeigt, dass dies der richtige Weg war, um über den kritischen Punkt zu gelangen, an dem er immer wieder in sein altes Verhaltensmuster zurückgefallen ist: "Meine instinktive Reaktion auf den Stimulus, mein ursprüngliches Ziel zu erreichen, wurde nicht nur am Anfang gehemmt, sie blieb tatsächlich durchgängig gehemmt, solange ich meine Steuerungsbefehle für den meinen neuen Gebrauch projiziert habe."

Wenn der "mindful runner" mit seiner wohl eher trügerischen Wahrnehmung dazu angehalten wird, sein Laufmuster zu beobachten, sich 'auf den Takt der Schritte zu konzentrieren und dann vielleicht zu beobachten, wie die Füße aufsetzen und wie sie abrollen', oder - in der Terminologie der Alexandertechnik - wie er seine Mechanismen beim Laufen gebraucht, wird sein Augenmerk mehr auf Nebensächlichkeiten gerichtet sein. Er wird jedoch kaum sein Laufmuster in Frage stellen, weil es sich ja richtig anfühlt, was er tut und wie er es tut. Die wirklich entscheidenden Dinge gelangen gar nicht in den Fokus seiner Aufmerksamkeit. Er nimmt nicht wahr, dass er seinen Kopf zurückzieht; er nimmt nicht wahr, dass er beim Laufen in den Rücken fällt und so seine Wirbelsäule verkürzt und seinen Rücken eng macht, weil er überhaupt keine Vorstellungen dafür entwickelt hat.

Wenn der 'achtsame Läufer' aber schließlich den Kopfhörer von seinen Ohren nimmt, um der Natur lauschen zu können, und wenn er die Augen für ihre Schönheit öffnet, ist dies eine Entwicklung, die dem Einzelnen durchaus auch gut tun kann.

Bis bald

Dein Großvater

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