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Im Brennglas der Alexandertechnik: Lärm


Liebe Marie,

in dem Film "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" nach dem gleichnamigen Roman von Milan Kundera kommt es in einem Restaurant zwischen Sabina, die ihre Heimat mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Tschcheslowakei 1968 verlassen hat, Franz, den sie in ihrem Genfer Exil kennenlernt, und dem Oberkellner zu dem folgenden Dialog:

Oberkellner: "Gibt es irgendwelche Klagen?"

Franz: "Uns stört dieser Lärm. Könnten Sie ihn bitte abstellen?"

Oberkellner: "Lärm?"

Sabina: "Ja, es soll wohl Musik sein. Wissen Sie, es hört sich wirklich an wie Abwaschwasser."

Oberkellner (pikiert): "Bedaure, die anderen Gäste mögen leider diesen ??? 'Lärm'."

Sabina (wütend): "Wie soll man sein Essen genießen, wenn man diesen Dreck hört."

"Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest." Dies hat der Nobelpreisträger Robert Koch bereits im Jahre 1910 prophezeit. In der Westfälischen Rundschau vom 15. Februar 2020 wurde auch die Frage behandelt, was Lärm eigentlich ist: Lärm sei höchst subjektiv. Was dem einen wie der Gesang der Sirenen vorkomme, ist für den anderen vielleicht unerträglicher Lärm. Der aufheulende Motor einer Kawasaki oder einer Harley-Davidson ist für seinen Besitzer Musik in seinen Ohren, für den Passanten auf dem Gehweg wohl eher eine Lärmbelästigung. Und Lärm könne krank machen. Er könne sowohl eine "direkt schädigende Wirkung auf das Gehör haben", als auch "den Gesamtorganismus belasten", zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck oder zu einem erhöhten Depressions- und Infarktrisiko führen. Aufgrund eines übermäßigen Lärmpegels falle es vielen schwer, sich zu konzentrieren, und sie fühlen sich von ihm gestresst. Lärmschwerhörigkeit sei mittlerweile die häufigste Berufskrankheit. Sie komme schleichend und schmerzfrei daher und sei nicht heilbar. Ein Hörgerät schaffe nur unzureichend Linderung.

Der Lärm wird an verschiedenen Fronten bekämpft. Es gibt inzwischen Lärmschutzverordungen und Vorschriften für die Organisation des Arbeitsplatzes; der Berliner Apotheker Maximilian Negwer hat schon 1908 Ohrstöpsel aus geschmolzenem Wachs auf den Markt gebracht, die sich heute steigender Beliebtheit erfreuen; Klangforscher haben sich mit der Thematik befasst und festgestellt, dass Hi-Fi-Klanglandschaften, bei denen einzelne Laute und Geräusche zu identifizieren sind, anders als Lo-Fi-Klanglandschaften, beruhigend wirken und Sicherheit geben.

Angesichts dessen, dass wir unseren Gehörsinn andauernd beanspruchen, zum größten Teil unbewusst und unfreiwillig, oft genug aber auch freiwillig, "hat sich in den letzten Jahren ein riesiger Markt um die Stille - Stille als ein Gegenpol zum Lärm - etabliert. Vom Stille-Retreat zum Schweigekloster, von der Meditations-App zum trendigen Noise-Cancelling-Kopfhörer, vom Waldbaden zur Floating-Kapsel, in der man völlig von Außenreizen abgeschirmt entspannt - die Sehnsucht nach einem akustischen Minimalismus scheint enorm zu sein."

Lärmempfinden ist also subjektiv, wie wir soeben erfahren haben. Dies kann aus mehreren Gründen auch gar nicht anders sein. Zum einen hat der Einzelne sich recht unterschiedliche Hörgewohnheiten zugelegt, die er lieb gewonnen hat. Und zum anderen prägt sich auch eine Schädigung des Hörapparats, der ein Teil der sinnlichen Wahrnehmungssysteme des Menschen insgesamt ist, sehr unterschiedlich aus. Tatsächlich ist in unserer Zivilisation die sinnliche Wahrnehmung der Menschen im hohen Maße geschädigt. Dies zeigt nicht zuletzt an der Art und Weise, wie sich die Menschen selbst gebrauchen: Ihr allgemeiner Selbstgebrauch stört sehr oft das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken empfindlich. Brille und inzwischen auch vermehrt das Hörgerät sind äußere Symbole für diese Tatsache.

Der falsche Gebrauch des Einzelnen hat zur Folge, dass die Kooordination der verschiedenen Teile im menschlichen Organismus beeinträchtigt ist. Die verschiedenen Teile gelangen in andere als die vorgesehenen Positionen zueinander, was die unterschiedlichen Mechanismen, Systeme und Funktionen des geistig-körperlichen Organismus des Menschen mehr oder weniger stark beinträchtigt. Wenn es zu Verschiebungen des Kopfes auf der Wirbelsäule gekommen ist, wenn es Verschiebungen in den die Kiefergelenken gibt oder wenn sich die einzelnen Teile des Hörapparates selbst - Amboss, Hammer, Steigbügel, Schnecke u.a. -, verschoben haben, kann davon auch das Hörvermögen betroffen sein.

Die Verschiebung der einzelnen Teile des Organismus ist sehr oft mit Schmerzen verbunden. Davon wissen viele, vor allem diejenigen, bei denen der Schmerz chronisch geworden ist, ein Lied zu singen. Im Falle des Hörapparats soll die Verschiebung seiner Teile jedoch weitgehend schmerzfrei und deshalb "schleichend" und unmerklich geschehen, heißt es in dem vorliegenden Zeitungsartikel. Ob mit Schmerzen verbunden oder schmerzfrei, jegliche Verschiebung der Teile des Organismus ist mit der Methodik der Alexandertechnik rückgängig zu machen, unabhängig davon, ob eine Verschiebung schon lange wirksam ist oder ob sie eher eine neue Entwicklung darstellt. Mit den Verfahren der Alexandertechnik wird der allgemeine Gebrauch des Einzelnen so verändert, dass das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken nach und nach immer weniger gestört wird. Um seinen allgemeinen Gebrauch verändern zu können, ist es notwendig, dass die betroffene Person völlig neue kinästhetische Erfahrungen macht, die ihm sein Alexandertechniklehrer durch den Einsatz seiner Hände vermittelt. Und weil ein Organismus eine geistig-körperliche Einheit darstellt, werden mit der kinästhetischen Wahrnehmung auch alle anderen Sinne geschärft.

Man sollte einen Hörschaden wirklich nicht auf die leichte Schulter nehmen und sich damit begnügen, ein Hörgerät zu verwenden. Man hört dann zwar nicht länger das "Abwaschwasser" der Töne, mit dem wir in unserer Zivilisation inzwischen nahezu dauerberieselt werden. Eine Einschränkung des Hörvermögens hat nämlich auch gravierende Auswirkungen auf den Gleichgewichtssinn.

Bis bald

Dein Großvater

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