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Im Brennglas der Alexandertechnik: Sitzen, hocken oder knien?


Liebe Marie,

laut einer Studie der University of South Carolina schade Sitzen der Gesundheit. Knien oder Hocken seien dagegen weniger schädlich, weil dabei die Muskeln deutlich mehr beansprucht würden als im Sitzen. Die Wissenschaftler hatten für ihre Studie das Volk der Hazda in Tansania beobachtet. Die Hazda seien körperlich sehr aktiv, legten aber auch lange Ruhephasen von ca. zehn Stunden am Tag ein, die sie im Knien oder Hocken verbringen. Wer das Risiko für Herz- Kreislauferkrankungen reduzieren wolle, solle sich also lieber hinknien oder hinhocken, als seine Zeit im Sitzen zu verbringen, so die Quintessenz in dem kurzen Bericht in der Westfälischen Rundschau vom 19. März 2020.

Wenn dieser Ratschlag erteilt wird, bleiben zwei wesentliche Punkte völlig unberücksichtigt. Selbst wenn die Menschen sich hinknien oder sich hinhocken wollten, könnten heute viele dies aufgrund der weitverbreitenden Knie-, Hüft- und Rückenprobleme oder weil sie es nicht gewohnt sind, gar nicht für längere Zeit. Wichtiger ist aber etwas andres. Die Hazda würden sich instinktiv auch im Sitzen so gebrauchen, wie sie sich beim Hocken und Knien gebrauchen: Dynamisch und koordiniert. Und die Menschen in der sogenannten zivilisierten Welt würden sich auch beim Knien und Hocken so gebrauchen, wie sie sich bei allen ihren Aktivitäten gebrauchen: Mehr oder weniger erschlafft, unkoordiniert, in sich zusammengesunken. Und im Sitzen zeigt sich diese allgemeine schädliche Gebrauchsweise noch verstärkt, weil wir damit Vorstellungen wie relaxen, sich entspannen, sich ausruhen, es sich gemütlich machen u. ä. verbinden, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, wie das Sich-Entspannen z. B. aussehen müsste. Und der bequeme Sessel und das weiche Sofa sind die äußeren Symbole für diese falschen Vorstellungen.

Zum Sich-Entspannen heißt es in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert", der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE: "Vom Prinzip her bedeutet Entspannung nämlich, dass die Teile des Muskelsystems, die von Natur aus beständig unter Spannung stehen sollten, auch im richtigen Maß gespannt sind, und dass die Teile, die von Natur aus mehr oder weniger entspannt sein sollten, auch mehr oder weniger entspannt sind." Für das Sitzen bedeutet dies, dass wir unser Gewicht nicht auf der Sitzfläche abladen, sondern die Sitzgelegenheit nur als momentane Stützfläche betrachten sollten, so dass es ein Leichtes wäre, uns z. B. den Stuhl unter dem Gesäß wegzuzuziehen, ohne dass wir zu Boden fallen. Nicht anders verhält es sich entsprechend mit dem Liegen, Hocken oder Knien, eigentlich mit allen unseren Aktivitäten: Nach jedem einzelnen Schritt sind wir gehalten, die einzelnen Teile des gesamten Organismus in Relation zueinander an ihrem angestammten Platz zu lassen. Insbesondere sollte der Hals nicht angespannt und der Köpf nicht zurück- und eingezogen werden. So werden eine optimale Spannungsverteilung im gesamten Organismus und eine bestmögliche Energieausnutzung gewährleistet. Das ist es auch, was mit der Alexandertechnik erreicht wird: Im Laufe des Lernprozesses gelangt jedes einzelne Teil des Organismus an seine richtige, angestammte Stelle und die Prinzipien der Alexandertechnik sorgen auch dafür, dass sie dort verbleiben.

In seinem bekanntesten Werk THE USE OF THE SELF, eine Neuübersetzung ins Deutsche wird Anfang 2021 bei BooksonDemand erscheinen, schreibt F. M. Alexander folgendes zu unseren Zivilisationsbedingungen: "In unserem gegenwärtigen Stadium der Zivilisation, das von der Notwendigkeit gekennzeichnet ist, sich beständig und rasch an eine sich schnell verändernde Umwelt anzupassen, ist eine unbedachte, instinktive Steuerung des Gebrauchs, die durchaus den Bedürfnissen einer Katze oder eines Hundes gerecht wird, ganz und gar nicht mehr ausreichend für die Bedürfnisse des Menschen."

Die zivilisierte Welt erlebt derzeit eine Katastrophe, wie sie nur mit den Krisen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und der Spanischen Grippe nach dem ersten der beiden großen Kriege zu vergleichen ist. Die Spanische Grippe hatte 100.000 Tote in Europa gefordert. Diese Zall wird wohl weltweit mit Covid-19 bei Weitem übertroffen werden, wenn wir berücksichtigen, in welch bedauernswertem geistig-körperlichen Zustand sich die Mehrzahl der Menschen in unserer Zivilisation befinden. Und dieser Zustand betrifft natürlich auch unser Immunsystem. Aber wie jede Krise bietet auch Covid-19 die Chance zu einer positiven Veränderung. Werden wir diese Chance wahrnehmen und lernen, anstelle einer instinktiven, unterbewussten Steuerung eine bewusste Steuerung und Kontrolle zu entwickeln und dann auch zu verwenden? Werden wir mit dieser bewussten Steuerung unseren Gebrauch so verändern, dass wir nicht länger in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreifen?

Bis bald

Dein Großvater

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