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Im Brennglas der Alexandertechnik: Kinästhetische Wahrnehmung


Liebe Marie,

diese kurze Zeitungsnotiz in der Westfälischen Rundschau vor einigen Tagen hat mein Interesse geweckt: "Chronischer Rückenschmerz bessert sich, wenn Patienten eine Echtzeitaufnahme ihres Rückens betrachten. (...) Allein das Betrachten der Aufnahme senke die Schmerzintensität bei den Betroffenen. Durch das Zusehen könne das Gehirn Informationen zum Geschehen besser verarbeiten." Soweit der Bericht über eine wissenschaftliche Studie der Ruhr-Universität Bochum.

Mit den eingesetzten Videokameras, die Bilder vom Rücken des Betroffenen gemacht und sie auf einen Monitor übertragen haben, wurde der Versuch unternommen, an Stelle kinästhetischer Wahrnehmung visuelle Eindrücke zu verwenden. Nichts anderes hatte F. M. Alexander bei der Entwicklung seiner Technik tun müssen, als er Spiegel zu Hilfe nahm, um zu sehen, was er mit seinem Kopf, Hals und Rücken tat, weil seine kinästhetische Wahrnehmung zu der Zeit nur so auf Sparflamme arbeitete, wie es schon seit langem bei den meisten Menschen der Fall ist.

Nach Klein/Porath, "Kinästhetik und Kommunikation", erschienen im Kulturverlag Berlin, meint Kinästhesie die Fähigkeit, Bewegungsrichtung und Lage der Körperteile zueinander und in Bezug zur Umwelt zu steuern und zu empfinden. Mittels der Rezeptoren in den Muskeln und Gelenken registriere der Muskelsinn die Stellung aller Körperteile und Gelenke und analysiere die Lage des Kopfes. Und in "Biologie der Sinne" stellen Frings/Müller (Springer/Spektrum Verlag, Berlin) fest, dass jede einzelne Bewegung und jede Organfunktion kontinuierlich überwacht und sinnvoll eingestellt werden müsse. Das Gehirn müsse über die Länge von vielen Hunderten von Muskeln genau Bescheid wissen, es müsse die Lage des Körpers im Raum beurteilen können und es müsse die Stellungen aller Gelenke kennen. Dies sind Aufgaben, die der kinästhetische Sinn übernimmt.

Wenn es in dem angesprochenen Zeitungsartikel heißt, dass "allein durch das Betrachten der Aufnahme die Schmerzintensität abgenommen habe, hat es tatsächlich den Anschein, dass das Gehirn nach diesen kinästhetischen Informationen förmlich gelechzt hat, die ihm schon so lange vorenthalten worden sind, weil das System der kinästhetischen Wahrnehmung im Laufe des Zivilisationsprozesses weitgehend lahmgelegt worden ist.

In der Praxis der Alexandertechnik geht die Wiederherstellung einer zuverlässigen sinnlichen Wahrnehmung und eine Reaktivierung der kinästhetischen Wahrnehmung Hand in Hand mit einer Veränderung des individuellen Selbstgebrauchs, so dass der Einzelne nicht länger das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken stört. In "Die Konstante im Fluss des Lebens" (BooksonDemand, 2019), der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING schreibt F. M. Alexander über den Gebrauch: "Wenn eine Gebrauchsweise schädlich ist, wie es meistens heutzutage der Fall ist, hat sie auf den gesamten Organismus einen beständigen Einfluss zum Schlechten und noch Schlechteren. Ein solch schädlicher Einfluss wird das allgemeine Funktionsniveau bei jeder neuen Verhaltensweise oder beim Neuaufbau des gesamten Organismus beständig absinken lassen, wird sowohl beim mentalen ais auch beim motorischen Lernen eine Strukturbildung unterlaufen und wird zu solch funktionellen Störungen führen, die die Vorläufer von Organschädigungen und von Krankeit sind." Um einen solchen Gebrauch zu verändern, ist es notwendig, dass die sinnliche Wahrnehmung allmählich immer zuverlässiger wird. In dem Prozess, der dazu führt, dass der individuelle Gebrauch sich so verändert, dass die Primärkontrolle zum Guten wirksam wird, vermittelt der Alexanderlehrer seinem Schüler die richtigen sinnlichen, insbesondere auch die richtigen kinästhetischen Erfahrungen, indem er ihn durch die jeweiligen Bewegungen führt. Die sinnlichen Erfahrungen, die der Schüler dabei macht, werden sich allerdings zunächst falsch anfühlen. Mit Wiederholung dieser Erfahrungen werden die vorherigen Sinneseindrücke, die sich bis dahin richtig angefühlt haben, jedoch nach und nach ersetzt werden können und sie werden zur Grundlage für einen neuen Selbstgebrauch, bei dem das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken zunehmend ungestört bleibt.

Ob in naher oder ferner Zukunft Chips und Sensoren in die Haut des Menschen implantiert werden, die dem Gehirn vermelden, an welchen Stellen in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingegriffen wird, und ob so veranlasst werden kann, dass solche Störungen auch wieder rückgängig gemacht werden, ob dies überhaupt sinnvoll wäre, mag ich, liebe Marie, hier nicht beurteilen. Bis es aber so weit ist, ist es bislang der einzig gangbare Weg, mit der Alexandertechnik eine bewusste Steuerung und Kontrolle über dieses Verhältnis zu erlangen.

Bis bald

Dein Großvater

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