top of page
Empfohlene Einträge

Im Brennglas der Alexandertechnik: Ein System zur Veränderung


Liebe Marie,

anlässlich der Verleihung des diesjährigen Oskars an Joaquin Phoenix, hat er eine Rede gehalten, die Furore gemacht hat. Er sagt darin unter anderem dieses: "Wir fürchten uns vor der Vorstellung persönlicher Veränderung, weil wir glauben, dass wir uns aufopfern müssen, wenn wir etwas aufgeben. Aber zum Besten des Menschen gehört es, dass wir so erfinderisch, kreativ und einfallsreich sind. Wenn wir Liebe und Mitgefühl zu unseren Leitprinzipien machen, können wir ein System zur Veränderung kreieren, entwickeln und installieren, das zum Nutzen aller Lebewesen und der Umwelt ist. Davon bin ich wirklich überzeugt."

Tatsächlich hat F. M. Alexander dieses System bereits im vorigen Jahrhundert entwickelt. "Ein bestimmtes Verhältnis des Kopfes zum Hals und des Kopfes und des Halses zu den anderen Teilen des Organismus bestimmt tendenziell, ob der Gebrauch und die Funktionsweise des Organismus in seiner Gesamtheit richtig oder falsch ist." Dies hat F. M. Alexander in "Die Konstante im Fluss des Lebens" (BooksonDemand, 2019), der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING geschrieben und diesen Sachverhalt Primärkontrolle genannt.

Mit der Entdeckung der Primärkontrolle allein ist allerdings nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Veränderung bereitet. Zusätzlich bedarf es dafür eines Weges, sich selbst daran zu hindern, "zu jedem beliebigen Zeitpunkt weiterhin das zu 'tun', was die Arbeitsweise des Gesamtorganismus stört." Dieser Weg wird mit der Hemmung der sofortigen Reaktion auf einen Reiz beschritten. Und es muss gelernt werden, "wie (man) Veränderungen in die Wege leiten kann, die das 'Tun' so verändern, dass sich allmählich das Arbeiten der geistig-körperlichen Mechanismen in ihrer Gesamtheit verbessert und die Mechanismen schließlich wieder ganz normal funktionieren." Und auch dafür stellt die Alexandertechnik die Mittel-und-Wege bereit.

Warum erweist sich der Wunsch nach Veränderung in unserem Leben oftmals als ein so großes Problem? Tatsächlich ist es so, dass jeder Einzelne von uns, sein Selbst, eine Ansammlung von Gewohnheiten ist. Und Gewohnheiten können äußerst hartnäckig sein. Das wissen wir alle aus eigener Erfahrung. F. M. Alexander schreibt dazu in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der Erstübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE: "In letzter Analyse aber besteht dieses unterbewusste Selbst aus den erworbenen Gewohnheiten und aus anderen, die teilweise mit dem Etikett Instinkt versehen worden sind. Diese Instinkte sind uns mit unserer Geburt mitgegeben. Ihr Ursprung reicht bis zum ersten schwachen Auftauchen von aktivem Leben zurück. Sie sind uns bis zum heutigen Tag in einer langen Kette von Vorfahr zu Vorfahr weitergereicht worden. Es ist ein riesiges Glück für uns, dass es nicht eine Denkgewohnheit mit der dazugehörigen Körpergewohnheit gibt, die nicht verändert werden könnte. Dazu bedarf es einzig und allein dieses: Den Menschen sind die Prinzipien zu vermitteln, die die richtige Körperbalance betreffen. Ich habe dafür den Ausdruck Prinzipien für den mechanischen Vorteil gewählt. Wenn dieser mechanische Vorteil zur Herstellung der Körperbalance in Zusammenarbeit mit der Energie zur Hemmung und den Willenskräften des Verstandes benutzt wird, können die problematischen Denkgewonheiten auf die Ebene einer bewussten Kontrolle gehoben werden. Aus falschen Denk- und Körpergewohnheiten entstehen nämlich allgemeine Schwäche, Krankheit und vorzeitiger Tod. Die falschen Posen und Körperhaltungen, die falschen schwerfälligen Atemgewohnheiten sind die Ursache für sehr viele unserer Probleme, da sie sehr oft negative Auswirkungen auf Herz und Lunge haben. Das Muskelsystem degeneriert. Viele der lebenswichtigen Organe verlieren teilweise ihre Funktionstüchtigkeit. Krankhafte Fettleibigkeit zerstört das Erscheinungsbild des Kranken in einer Weise, dass es nicht länger dem eines normalen Menschen entspricht. Wenn aber die erste behindernde Denkgewohnheit erst einmal aus dem Weg geräumt ist, die zwischen uns und einer bewussten Kontrolle steht, kann es gelingen, falsche Denk- und Körpergewohnheiten in richtige und nützliche zu verwandeln."

Joaquin Phoenix hat in seiner Rede "Liebe und Mitgefühl" hervorgehoben, mit denen als Leitprinzip Systeme zur Veränderung geschaffen werden könnten. Er hat dabei jedoch etwas sehr Wesentliches übersehen: In unserer zivilisierten Welt ist die sinnliche Wahrnehmung sehr vieler Menschen so degneriert, dass sie ohne Hilfsmittel kaum noch auskommen. Brille und Hörgerät sind äußere Kennzeichen dieser Degeneration. Weil der menschliche Organismus aber eine Einheit darstellt, muss man davon ausgehen, dass außer Auge und Ohr auch die anderen Eingangskanäle der sinnlichen Wahrnehmung von dieser Degeneration betroffen sind. (Riech- und Geschmacksgerät sind zwar noch nicht erfunden, dafür wird in der Lebensmittelindustrie bereits auf breiter Front mit Geschmacksverstärkern und Duftstoffen gearbeitet, um die Produkte besser an den Mann und die Frau bringen zu können. Und als Gefühlsverstärker werden schon länger Traumwelten in Film und Fernsehen geschaffen.)

Bevor also die Systeme zur Veränderung zur Wirkung kommen können, ist dafür zu sorgen, dass die sinnliche Wahrnehmung und mit ihr "Liebe und Mitgefühl" wieder zu einer zuverlässigen Größe werden. Auch eine Veränderung des Gebrauchs, so dass der Einzelne die Primärkontrolle des natürlichen Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken nicht länger stört, ist nur mit einer sich nach und nach verändernden sinnlichen Wahrnehmung möglich. In dem Prozess, der dazu führt, dass der individuelle Gebrauch sich so verändert, dass die Primärkontrolle zum Guten wirksam wird, vermittelt der Alexandertechniklehrer seinem Schüler die richtigen sinnlichen, insbesondere die richtigen kinästhetischen Erfahrungen, indem er ihn durch die jeweiligen Bewegungen führt. Die sinnlichen Erfahrungen, die der Schüler dabei macht, werden sich zunächst falsch anfühlen. Mit der Wiederholung dieser Erfahrungen werden aber die vorherigen Sinneseindrücke, die sich bis dahin richtig angefühlt haben, nach und nach ersetzt werden können.

"Wir können uns gegenseitig dabei helfen zu wachsen", hat Joaquin Phoenix in seiner Rede betont. Wir können aber dem anderen nur dabei wirklich helfen, wenn wir selbst beständig wachsen. Und tatsächlich sind mit einer gut funktionierenden Primärkontrolle dem individuellen Wachstum keine zeitlichen und inhaltlichen Grenzen gesetzt. Und weil mit der Alexandertechnik auch die Verbindung zu unserem Verstand wiederhergestellt worden ist, werden wir, wenn nicht nur Einzelne, sondern viele gelernt haben, sich bewusst zu steuern und zu kontrollieren, nicht nur einsehen, dass es nicht klug ist, der Natur den Garaus zu machen. Wir werden vielmehr auch unser Handeln darauf abstellen, dass wir im Einklang mit unserer Umwelt leben. "That's the best of humanity", wie Joaquin Phoenix seine Rede beendet hat.

Bis bald

Dein Großvater

Aktuelle Einträge
Archiv
Schlagwörter
Folgen Sie uns!
  • Facebook Basic Square
  • Twitter Basic Square
  • Google+ Basic Square
bottom of page