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Im Brennglas der Alexandertechnik: Sich Verzetteln


Liebe Marie,

wir haben es zugelassen, dass die Prinzipien der Arbeitswelt - Zielorientierung, Optimierung, Rationalisierung, Effizienz, u. a. m. - mittlerweile unser Privatleben erobert haben. Dies sagt der Soziologe Hartmut Rosa in einem Zeitungsinterview der Westfälischen Rundschau vom 9. November 2019. Dies fange schon vor der Geburt eines Kindes an, wenn mittels Ultraschall die Entwicklung des Kindes überwacht wird und setzt sich bei dem Heranwachsenden fort, der sich in allen Bereichen normgerecht entwickeln soll und dessen musische, künsterlische, soziale oder sportliche Kompetenzen unbedingt gefördert werden sollen. Als Erwachsener setzen wir uns dann mit unserer To-do-Liste täglich selbst dermaßen unter Druck, dass wir unseren eigenen Ansprüchen kaum mehr genügen können: Wir messen, ob wir wirklich die 10.000 Schritte täglich tun, die uns der Arzt empfohlen hat; wir wollen unsere Freundschaften so pflegen, wie es von uns gesellschaftlich erwartet wird; mit Yoga oder Meditation sollen wir unsere Einsatzbereitschaft im Beruf und in der Privatsphäre sicherstellen; es wird erwartet, dass wir die Telefon-, Strom- und andere Tarife checken. All diese Dinge zählt der Soziologe in dem Interview auf. Die Liste kann aber beliebig erweitert werden. So muss an den Wochenenden unbedingt etwas unternommen werden und im Urlaub muss man verreisen - am besten an einen Ort, der die Nachbarn vor Neid erblassen lässt.

Die von der Gesellschaft formulierten Erwartungen hätten ein Niveau erreicht, das "das Gefühl der Erschöpfung durchaus rechtfertigt". Das Perfide an diesen gesellschaftlichen Normen ist ihre beständige Veränderung aufgrund wirtschaftlicher Interessen: Gestern noch war die Farbe "grün" angesagt, heute schon ist vielleicht "dunkelblau" die Modefarbe. Vor kurzem noch waren die Hosen eng geschnitten. Der aktuelle Trend verlangt aber vielleicht einen weiten Schnitt. Diesen Normen haftet eine Beliebigkeit an, die rational nicht nachvollziehbar ist.

Im Inneren des Menschen findet sich jedoch eine Norm, die absolut ist: Die Primärkontrolle. Sie steuert und regelt die Abläufe innerhalb des menschlichen Organismus. In "Die Konstante im Fluss des Lebens" (BooksonDemand, Anfang 2020), der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING, weist F. M. Alexander darauf hin, dass für einen normalen Gebrauch der Haltungsmechanismen eine Koordination unabdingbar sei. Und eine solche Notwendigkeit für ein koordinierendes Element zwinge uns zu dem Schluss, dass "einfach eine zentrale Kontrolle (die Primärkontrolle) vorhanden sein" müsse, "die indirekt die Arbeitsweise der Haltungsmechanismen beeinflusst. (.........) Dieser Einfluss der zentralen (primären) Kontrolle variiert zum Guten oder zum Schlechten, je nachdem, wie zuverlässig die Mechanismen zur sensorischen Kontrolle der Bewegungen und zu ihrer Koordination bei allen Aktivitäten funktionieren."

Offenbar hat der Mensch ein Gespür für die Notwendigkeit einer normativen Kraft im Leben. Weil die Primärkontrolle aber in der Regel weiterhin nur im Untergrund - eher zu seinen Ungunsten als zu seinen Gunsten - wirkt, nimmt der Mensch gerne Zuflucht zu Normen, die von außen an ihn herangetragen werden. Die Religionen haben lange davon profitiert. Heute ist es die Wirtschaft, die vor allem daraus Kapital schlägt. Und die lieben Nachbarn haben immer schon normativen Druck ausgeübt. Wenn aber der bewusste richtige Einsatz der Primärkontrolle dafür sorgt, dass nicht in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingegriffen wird, hat der Einzelne eine normative Kraft zu seiner Verfügung, die ihm in allen Lebenslagen eine wirkliche Hilfe ist und die viele der anderen Normen tatsächlich überflüssig macht. Zudem entwickelt sich daraus ein solches Selbstvertrauen und Selbstbewustsein, dass es uns leicht fallen lässt, nein zu sagen.

Hartmut Rosa ist Soziologe. Sein soziologischer Ansatz gibt der "Gesellschaftsstruktur" die Schuld an der Misere der niemals abgearbeiteten To-do-Listen. Nur ist die "Gesellschaftsstruktur" nun einmal so, wie sie ist. Im Allgemeinen liegt es nicht in unserer Macht, sie grundsätzlich zu verändern. Was wir aber verändern können, ist die Art und Weise, in der wir mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen umgehen. An dieser Stelle kommt das oben angesprochene Nein-Sagen wieder ins Spiel. In "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL schreibt F. M. Alexander, dass es die Menschen als sehr schwierig empfänden, "innezuhalten, abzuwarten und Nein! zu sagen, wenn der Impuls kommt, die (Steuerungs-) Befehle auszuführen. Jahrelange Einübung hat nämlich die Gewohnheit gefestigt, schnell und unüberlegt auf eine Anweisung zu reagieren." Die schnelle und unüberlegte Reaktion kann in der Tat durch ein simples Nein verhindert werden. Wenn wir es uns zu einer Gewohnheit gemacht haben, die unmittelbare Reaktion auf einen Stimulus mit einem Nein zu hemmen, wie der Fachbegriff in der Alexandertechnik lautet, ist der Weg für eine ungewohnte Reaktion vorbereitet.

"Der Prozess der Hemmung wird zu einer Reaktionshandlung, zu einem Willensakt auf den bewussten, wohl überlegten Wunsch, die Mittel-und-Wege einzusetzen, mit denen ein Ziel errreicht werden könnte", schreibt F. M. Alexander dort. Dass Hemmung eine Handlung ist, erklärt Sir Charles Sherrington in seiner Schrift "Die Mechanismen des Gehirns", wenn er darin schreibt: "Sich einer Handlung zu entsagen, ist nicht weniger eine Handlung, wie es die Ausführung einer Handlung ist, denn auch die Hemmung einer Handlung geht genauso mit einer Erregung nervlicher Aktivität einher, wie Nerven bei einer Handlung selbst erregt sind."

Nun hat eine Gewohnheit, die gute genauso wie die schlechte, die Eigenschaft, unseren Willen, einem Usurpator gleich, zu dominieren. Wenn sich das, was wir wollen, mir dem deckt, was unsere Gewohnheit ist, soll es uns nur recht sein. Wenn das nicht der Fall ist, haben wir ein Problem, für das es zunächst nur die eine Lösung gibt, überhaupt jegliche Reaktion auf einen entsprechenden Impuls zu hemmen. Dazu ist es notwendig, die entsprechenden Befehle auszusenden. "Die ausgesandten Befehle, die eine Handlung verhindern sollen, haben den Zweck, die Fehlsteuerung auszuschalten, die mit unserem gewohnheitsmäßigen Gebrauch bei der Ausführung der Handlung verbunden ist. Mit der Ausschaltung der Fehlsteuerung wird die Basis für jede andere Aktivität gelegt, die mit dieser Handlung verknüpft ist. Auf diese Weise wird der Weg dafür bereitet, die neuen Steuerungsbefehle auszusenden, die den neuen, verbesserten Gebrauch bewirken. Solange nämlich unser Gehirn damit beschäftigt ist, Befehle auszusenden, die unsere gewohnte Gebrauchsweise zum Einsatz kommen lassen, besteht nur wenig Aussicht, dass bei unserem 'Tun' der Teufelskreis der beteilgten Reflexaktivität durchbrochen wird." Dies schreibt F. M. Alexander in seinem letzten Buch "Die Konstante im Fluss des Lebens".

Bei den Verfahren der Alexandertechnik komme etwas zur Anwendung, was von John Dewey "Denken beim Handeln" genannt worden ist. "Wir werden gleichzeitig die Befehle projizieren, die unsere vertraute und gewohnte Reaktion im Zaum halten, und auch die neuen Befehle, die uns den Weg freimachen, für die motorischen Impulse auf nicht vertrauten Kommunikationsbahnen im Zusammenhang mit nervöser und muskulärer Energie."

Wenn wir uns nicht länger verzetteln wollen, wenn wir den unterschiedlichen Ansprüchen, die die Gesellschaft an uns stellt, trotzen wollen, sind wir tatsächlich in diesem Sinne zum Handeln aufgefordert. Mit einer Primärkontrolle, die nicht das natürliche Verhältnis des Kopfes zum Hals und nicht das Verhältnis des Kopfes und Halses zum Rumpf stört, auf der Basis einer sinnlichen Wahrnehmung, auf die man sich jetzt mehr und mehr verlassen kann und mit der Hemmung unserer gestörten Reaktionsweise verliert jede unserer Handlungen alles Fahrige, Gekünstelte und auch jede Steifheit. Vielmehr wird sie mehr und mehr gekennzeichet sein durch Gelenkigkeit, Geschmeidigkeit, Leichtigkeit und Eleganz.

Bis bald

Dein Großvater

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