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Im Brennglas der Alexandertechnik: Einsamkeit und bewusstes Alleinsein


Liebe Marie,

Einsamkeit - soziale Isolation - mache krank, heißt es in einem Artikel der Westfälischen Rundschau vom 9. September 2019. Sie sei so schädlich wie Alkoholismus, 15 Zigaretten am Tag oder Fettleibigkeit. Dauerhaft Einsame litten häufiger unter Erschöpfung, Kreislaufstörungen, Entzündungen oder Kopfschmerzen. Sie erhöhe das Demenzrisiko um vierzig Prozent, so eine Studie der Florida State University aus dem Jahre 2018.

Auf der anderen Seite sei es für das eigene Wohlbefinden und die Gesundheit immens wichtig, Zeit nur mit sich selbst zu verbringen. "Das Alleinsein ist an sich etwas, was die meisten Menschen immer einmal wieder brauchen", so eine Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Und auch eine Studie der Universität Rochester, USA, aus dem Jahre 2017 bestätigt, dass "das Alleinsein zu psychischer und körperlicher Entspannung und zu Stressabbau führen kann, wenn man sich bewusst dafür entscheidet". Das bewusst gewählte Alleinsein trage zu persönlichem Wachstum und Selbstakzeptanz bei, wohingegen es problematisch sein könne, wenn man - zur Strafe oder aus sozialer Angst - gezwungenermaßen isoliert sei, werden die Forscherinnen Virginia Thomas und Margerita Azmitia in meiner Tageszeitung zitiert.

Unsere moderne Zivilisation gibt dem Menschen kaum noch die Möglichkeit, Zeit nur mit sich selbst zu verbringen, "sich aktiv mit sich selbst auseinanderzusetzen". Lärm in all seinen Formen ist zu einem ständigen Begleiter geworden. Werbung drängt sich in vielen Lebensbereichen mehr und mehr auf und lenkt unsere Aufmerksamkeit von unserem Inneren auf all die Dinge ab, die es zu kaufen gibt. Rund um die Uhr ist für Unterhaltung gesorgt. Für eine Intraspektion bleibt wahrlich nicht mehr viel Platz und Zeit übrig.

So hat der moderne Zivilisationsmensch es weitgehend verlernt, Zeit mit sich selbst - ohne Ablenkung durch Musik, Fernsehen, Smartphone, Internet oder Konsum auf Schritt und Tritt - zu verbringen. Ihm ist im Laufe der Zeit die Fähigkeit zum Alleinsein abhanden gekommen. Wenn er die Vorteile des bewussten Alleinseins wieder genießen will, muss er dies zunächst deshalb wieder neu lernen.

Um überhaupt bewusste Entscheidungen treffen zu können, ist es unumgänglich, dass der Einzelne sich von seiner Gewohnheit trennt, nach seinem Gefühl, "aus dem Bauch heraus", instinktiv zu handeln. Dies ist notwendig, weil Gefühl, Instinkt oder Intuition nicht mit den rapiden Veränderungen unserer Zivilisation Schritt gehalten haben. Sie hinken den aktuellen Verhältnissen und Bedingungen inzwischen meilenweit hinterher und versagen deshalb oftmals in der konkreten Lebenssituation. So können sie nicht länger Maßstab für unser Handeln sein. Verstand und Vernunft müssen an ihre Stelle treten.

"Das Bewusstsein muss geweckt werden!" Dies sei in der Tat die zentrale Aussage und das Rückgrat seiner Theorie und Praxis, schreibt F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE. Und in "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL schreibt er: "In den letzten Jahren hat die Psychologie große Fortschritte gemacht. Ihre Erkenntnisse lassen keinerlei Zweifel daran, dass sich die Menschen allzu oft auch ihrer auffälligsten geistig-körperlichen Eigenarten und Defekte nicht bewusst werden. Neigungen, die sich aus diesen Defekten und Eigenarten entwickeln, geraten ebenso oftmals nicht ins Blickfeld ihres Bewusstseins. Aber erst wenn es uns gelungen ist, bei unseren bewussten Bemühungen in Verbindung mit unserer geistig-körperlichen Entwicklung von den Denkprozessen vermehrt Gebrauch zu machen, können wir in diesem Zusammenhang vielversprechende Versuche starten, um auf eine zufriedenstellende Bewussteseinsstufe zu gelangen. (...) Wenn wir dann ein zufriedenstellendes Ausrichtungs- und Koordinationsniveau erreicht haben, weil eine neue, jetzt zuverläsige sinnliche Wahrnehmung installiert worden ist, ist es unsere Aufgabe, diesen befriedigenden bewussten Gebrauch bei allen unseren Handlungen des täglichen Lebens einzusetzen."

Eine zuverlässige sinnlche Wahrnehmung ist in der Tat neben dem Bewusstsein ein zweiter Baustein, der es uns wieder möglich und erstrebenswert macht, mit uns allein zu sein. Mit einer solchen Wahrnehmung, bei der mit allen Sinnen die Eindrücke aufgenommen werden, die auf uns treffen, entsteht gar nicht erst die innere Leere, die uns oftmals zwingt, dem Alleinsein zu entkommen. Mit ihr können können wir tatsächlich hören, dass "nichts so laut ist wie die Stille". Und auch unsere aktivierte kinästhetische Wahrnehmung liefert uns beständig Informationen zur Position der einzelnen Teile unseres Organismus zueinander und zu ihrer Spannung, die wir dank unserer Kenntnisse, die wir durch die Alexandertechnik erworben haben, dann analysieren und ggf. korrigieren können. Dieser beständige Informationsfluss lässt Langeweile, die oftmals angeführt wird, warum ein Mensch nur schwer allein sein kann, gar nicht erst aufkommen.

Der Forscher Horst Opaschowski malt in der Westfälischen Rundschau vom 28. September 2019 ein düsteres Bild von unserer Zukunft, wenn er feststellt, dass die digitalen Medien, die mehr und mehr unser Leben bestimmen, "einsam und aggressiv machen" und dass in Zukunft immer mehr Menschen allein leben werden. Altersarmut sei derzeit in aller Munde, aber Kontaktarmut werde demnächst ein sehr viel größeres Problem darstellen. Und er gibt der jungen Generation den dringenden Rat, in dieser Beziehung "zur Selbsthilfe zu greifen": Sie solle lernen, 'digitale Diät' einzulegen.

F. M. Alexander hat schon vor einem Jahrhundert mit seiner von ihm entwickelten Technik einen anderen äußerst wertvollen Rat gegeben: In jahrelangen Selbstversuchen hat er ein Muster zur Anwendungsreife gebracht, "das es dem Menschen ermöglicht, mit neuen und nicht vertrauten Situationen fertig zu werden. (...) Dieses Muster stattet ihn mit dem nötigen Rüstzeug aus, um seine Reaktion zu verändern und zu kontrollieren. Eine Veränderung der Reaktion ist nämlich notwendig angesichts der unausweichlichen Schwierigkeiten, die sich einstellen, wenn er versucht, von seinen bekannten, aber falschen Erfahrungen zu den ihm unbekannten und richtigen Erfahrungen zu gelangen. Diese unbekannten und richtigen Erfahrungen sind aber die Voraussetzung dafür, dass er die grundsätzlichen Veränderungen tatsächlich ausführen kann." Dies hat F. M. Alexander in "Die Konstante im Fluss des Lebens" (BooksonDemand, Herbst 2019), der deutschen Neuübersetzung von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING geschrieben.

Mit diesem Muster, das auf einer zuverlässigen sinnlichen Wahrnehmung, einem koordinierten Gebrauch der einzelnen Teile des Organismus, einer bewussten Steuerung und Kontrolle über den Verstand und auf der Fähigkeit zur Hemmung beruht - diese Fähigkeit ist unumgänglich, weil "zunächst das zu ersetzende Muster stillgelegt werden muss, bevor das neue Muster zur Anwendung kommen" kann -, wird der Einzelne auch in die Lage versetzt, Alleinsein nicht "als Leiden zu empfinden" sondern als eine Lust.

Beim Thema Einsamkeit kommt man, liebe Marie, an Hermann Hesses Gedicht "Im Nebel" eigentlich nicht vorbei. Die beiden letzten Strophen lauten:

Wahrlich, keiner ist weise,

Der nicht das Dunkel kennt,

Das unentrinnnbar und leise

Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!

Leben ist Einsamsein.

Kein Mensch kennt den andern,

Jeder ist allein.

Bis bald

Dein Großvater

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