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Im Brennglas der Alexandertechnik: Stress und Anspannung


Liebe Marie,

hast Du Dir schon einmal darüber Gedanken gemacht, dass der Mensch in seiner Geschichte über Jahrhunderte und Jahrtausende keine anderen Vibrationen gekannt hat als das Rattern eines Rades auf einer holprigen Straße, das Jammern eines gespannten Segels oder das Rauschen eines vorbeiflitzenden Schiffskörpers? Ist Dir überhaupt klar, dass sich unser Körper- und Nervensystem über hunderte und tausende von Jahren entwickelt hat, geeicht auf sanfte Rhythmen und auf weiche Bewegungen bei geringer Geschwindigkeit, die nur in Momenten der Gefahr und des Stresses gesteigert wurde? Diese Fragen hatte Prof. John Hilton 1936 auf einer Konferenz des Instituts für Arbeitsmanagement gestellt. "In den letzten hundert Jahren haben wir es soweit gebracht, dass wir Maschinen mit energetischem Antrieb zu unserer Verfügung haben. Nahezu ohne dass wir es bemerkt haben, gibt die Maschine für unsere Körperbewegungen ein neues Tempo vor," schreibt er weiter und stellt fest, dass wir mit dem Tempo der Maschine mithalten wollen.

Eine Zeit lang waren die Stressfaktoren Vibration und Lärm auf die Fabrikhallen und ihre Umgebung zentriert. Heute sind sie auf die Straßen hinausgetreten und allgegenwärtig. Der Verkehr ist zu einer niemals versiegenden, beständigen Quelle von Lärm und Erschütterungen geworden. Die Orte, an denen Stille herrscht und die ohne Erschütterungen sind, sind rar geworden. Ist es unter solchen Bedingungen ein Wunder, dass "die Menschen stärker verbogen und verzogen und ihre Nerven sogar noch mehr zum Zerreißen gespannt" sind?

Um dem allgegenwärtigen Stress und der Anspannung zu begegnen, werden in der meiner Tageszeitung vom 7.September 2019 Achtsamkeitsübungen empfohlen: 'Tief durch die Nase einatmen und dem Atem nachspüren', 'den Geist fokussieren und negative Gedanken ziehen lassen', 'seinen Gefühlen und Gedanken besondere Aufmerksamkeit schenken', 'bewusst die Speisen genießen', 'mit geschlossenen Augen den Körper erspüren' "sollen helfen, die innnere Ruhe wiederzufinden."

Die Übungen zur Achtsamkeit sind duchaus gut gemeint. Weil sie aber auf direktem Wege zum Ziel gelangen wollen, sind ihre Ergebnisse nicht nachhaltig und bleiben an der Oberfläche. Ja, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass mit diesen Übungen neue Probleme geschaffen werden, die ggf. schwerwiegender sind als die ursprünglichen, wenn der oder die Übende versucht, solche Hinweise wie 'Rücken gerade', 'Schulter entspannt', 'aufrecht sitzen' oder 'den Körper gerade halten' umzusetzen, oder wenn er oder sie Geist, Atem oder Sinne fokussieren soll, wie der Leser in dem Artikel aufgefordert wird.

Fokussierung oder Konzentration - den Begriff benutzt F. M. Alexander - meint "eine Fixierung auf spezifische Punkte und Merkmale". In der Tat gebe es heute kaum noch jemanden, der es nicht als wertvoll einschätzt, sich konzentrieren zu können. Dies hat F. M. Alexander in "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL, geschrieben. "In einer Welt, in der der Mensch gewöhnlich nicht nur dem vertraut, was 'Konzentration' genannt wird, sondern in der sie auch beständig in der Praxis verwendet wird, werden schon bei der bloßen Vorstellung des Wortes selbst und seiner nur vorgestellten Verwendung in der Praxis all die geistig-körperlichen Defekte des betroffenen Menschen aktiviert. (...............) Wenn aber ein Defekt oder eine Eigenart - Stress und Anspannung sind derartige Defekte - wirklich beseitigt werden soll, ist es notwendig, auf einer allgemeinen Basis zufriedenstellende geistig-körperliche Kooordinationsverhältnisse wiederherzustellen."

Mit der von F. M. Alexander entwickelten Technik und einem erfahrenen Lehrer ist es möglich, die einzelnen Teile des Organismus wieder zu koordinieren. Voraussetzung ist allerdings, dass der Schüler die entsprechende Geisteshaltung mitbringt oder zuvor im Unterricht erwirbt. "An jedem Anfang steht das aufrichtige Eingeständnis des Schülers, dass die unterbewussten Faktoren, die seine geistig-körperliche Einheit steuern, nur äußerst unzuverlässig und beschränkt sind. Der Schüler akzeptiert auch, dass er in Bezug auf seine Körperhandlungen geistigen Täuschungen unterliegt und dass seine sinnliche Wahrnehmung, oder genauer, seine kinästhetische Wahrnehmung fehlerhaft und irreführend ist. Mit anderen Worten erkennt er an, dass er ein falsches Gefühlsverzeichnis besitzt, um die Größe der benötigten Muskelspannung abschätzen zu können, wenn er auch nur die einfachsten Handlungen des Lebens ausführt." Dies schreibt

F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE.

Diese fehlerhafte kinästhetische Wahrnehmung hat dazu geführt, dass "die Menschen stärker verbogen und verzogen und ihre Nerven sogar noch mehr zum Zerreißen gespannt sind", dass Stress und Anspannung zu unserem heutigen Leben gehören. Diese fehlerhafte kinästhetische Wahrnehmung ist auch der Grund, warum es dem Übenden kaum möglich ist, solche Hinweise wie 'Rücken gerade', 'Schulter entspannt', 'aufrecht sitzen' oder 'den Körper gerade halten' bei einer Achtsamkeitsmeditation umzusetzen, und warum das, was man bei einer Meditation wahrnimmt, eher eine Traumwelt darstellt, als das es den Realitäten entspricht. Und tatsächlich wird der Meditierende bei der einen oder anderen Übung angehalten, die Augen zu schließen und seinen Träumen freien Lauf zu lassen.

Mit einer intakten kinästhetischen Wahrnehmung aber nimmt der Betroffene nicht nur die Orte der Verspannung wahr, er kann jetzt auch sein Tun analysieren, das die Verspannungen bewirkt. Es ist ihm in der Folge möglich, dieses falsche Tun zu unterbinden, zu hemmen, wie es in der Fachsprache der Alexandertechnik heißt. Mit der sich entwickelnden kinästhetischen Wahrnehmung kann er auch spüren, wenn er in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreift. Und er kann dieses Eingreifen mit seiner Fähgkeit zur Hemmung augenblicklich unterbinden, so dass sein allgemeiner Gebrauch mehr und mehr von sich vebessernden Koordinationsverhältnissen geprägt sein wird. All dies geschieht nicht hierarchisch - erst das eine, dann das andere -, es geschieht gleichsam in einer sich nach oben schwingenden Spirale, das eine das andere bedingend.

Ein Schüler von F. M. Alexander, Reverend W. Pennyman, hat die Wirkung der Alexandertechnik mit den folgenden Worten beschrieben: "Es ist ein großartiges Merkmal von F. M. Alexanders System, dass auch das letzte bisschen Druck und Belastung verlorengeht. (...) Die Bewegungen werden 'geschmeidig'. Der Körper arbeitet wie eine gut geölte Maschine und alles Schwere und alle Spannungen verschwinden. Und genauso hat sein System ein Ergebnis auf das Denken des Patienten. Wie ein Reflex kommen Vergnügtheit und Freude in seine Seele. Sie treten an den alten Zustand geistiger Erschöpfung."

Bis bald

Dein Großvater

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