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Im Brennglas der Alexandertechnik: Nackenschmerzen


Liebe Marie,

statistisch leide jeder Zweite in Deutschland unter Nackenschmerzen. Sie könnten viele Ursachen haben - Zugluft, ungüstiges Liegen, Stress im Beruf, Ärger mit der Familie oder andere seelische Belastungen -, aber am stärksten leide unser Nacken unter unserem Lebensstil. Langes Sitzen und Starren auf die Bildschirme mit vorgerecktem Kopf seien Gift für Nacken- und Rückenmuskeln, heißt es auf der Seite Extra in der Westfälischen Rundschau vom 24. August 2019. Wenn Fehlbelastung oder Bewegungsmangel die Ursachen für einen schmerzenden Nacken seien, seien Dehn- und Kräftigungsübungen angesagt, die die Muskeln lockern und entspannen sollen. Regelmäßige Bewegung tue dem Nacken sowieso gut. Ansonsten seien Wärme, Massagen und Entspannungsmethoden wie Autogenes Trainig zu empfehlen.

Tatsächlich ist der Nacken nah an dem Ort, an dem sich entscheidet, ob sich Schmerzen, Defekte oder Krankheiten hier oder an anderen Stellen des Organismus entwickeln: Den Subokzipitalgelenken und den dazugehörigen Subokzipitalmuskeln. In einem Vortrag vor der British Medical Associaton, auf den F. M. Alexander im Anhang von "Die Konstante im Fluss des Lebens" (BooksonDemand, Herbst 2019), der deutschen Neuübersetzung von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING hingewiesen hat, hat A. Murdoch die Rolle dieser Muskeln näher erläutert: "Die spezielle Aufgabe der Subokzipitalmuskeln (die Muskeln 1,2,3,4 in der Grafik unten) ist es, die Schädelkugel im Atlanto-Okzipital- und im Atlantlo-Axialgelenk zu bewegen." Ihre kleinen, feinen Bewegungen seien "überaus wichtig, um die Schädelkugel richtig auszubalancieren. Aufgrund dieser Balance ist es dem koordinierenden und regulierenden Apparat - dem Labyrith - möglich, das richtige und angemessene Verhältnis zwischen Schädelkugel und Körper zu erhalten." So würden die nötigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die lebenswichtigen Organe bestens funktionierten.

"Die Kontrolle dieser Funktion der Schädelkugel ist bei der großen Mehrzahl der Menschen verloren gegangen - eine solche Kontrolle ist niemals erlernt worden - und mit ihr die Fähigkeit, uns richtig zu halten und auszurichten. Aufgrund dieses Kontrollverlusts sind die vielen Einschränkungen und Behinderungen entstanden, unter denen der Mensch heute zu leiden hat." Bei dem Versuch, in Abhängigkeit von seinem unterbewusst gesteuerten Organismus von den niederen Stufen auf die höheren Stufen der evolutionären Ebenen zu gelangen, sei das kinästhetische System in seine Einzelteile zerlegt worden, schreibt F. M. Alexander in "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BoD, 2018), der Erstübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE.

F. M. Alexander selbst erwähnt die Subokzipitalmuskelgruppe an keiner Stelle in seinen vier Büchern, wie er überhaupt zu den einzelnen Muskeln des Organismus kaum ein Wort verliert. (Einzig im Anhang zu "Die Konstante im Fluss des Lebens" räumt er zwei Wissenschaftlern den Platz ein, um darüber zu referieren.) Seine Gründe dafür sind einleuchtend: Der einzelne Muskel oder die einzelnen Muskelgruppen sind eingebettet in den Gesamtorganismus und funktionieren auch nur in einer geistig-körperlichen Einheit mit dem gesamten Organismus. So wird es auch nicht genügen, irgendwie direkt auf die Subokzipitalmuskeln einzuwirken. Die Voraussetzungen für ihren ungestörten Einsatz müssen geschaffen werden: Die sinnliche Wahrnehmung und mit ihr die kinästhetische Wahrnehmung müssen wieder zu einer zuverlässigen Größe werden; der Einzelne muss lernen, seine falschen Gebrauchsweisen zu hemmen; Arme und Beine sind mit dem Torso zu koordinieren; die unterbewusste Steuerung und Kontrolle ist durch eine bewusste zu ersetzen; der Einzelne muss lernen, seine Primärkontrolle so einzusetzen, dass das Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken ungestört bleibt, weil es dem Hals erst mit einer solchen Primärkontrolle ermöglicht wird, seine übermäßige Spannung mehr und mehr zu reduzieren.

"Unbemerkt von ihm selbst benutzt der Mensch seinen Körper beständig falsch, sogar bei den einfachsten Tätigkeiten des Lebens, und fügt sich so ungeahnten Schaden zu." So hat der damalige Präsident des Chemischen Instituts von Südafrika F. M. Alexander in einem Vortrag zitiert, den er vor Mitgliedern des Instituts gehalten hat. Sitzen ist eine solche Zivilisationstätigkeit, die wir heute jeden Tag stundenlang ausüben, an der Arbeitsstelle, auf dem Weg zur und von der Arbeit, zuhause am Tisch oder vor den diversen Bildschirmen. Weil wir davon augegangen sind, dass Sitzen das Einfachste auf der Welt ist und zu unserer instinktiven Grundausrüstung gehört, haben wir niemals darauf geachtet, wie wir es tun. Es ist uns nicht aufgefallen, dass wir schon bei dem bloßen Gedanken, uns setzen zu wollen, in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreifen, indem wir den Hals anspannen und den Kopf zurückziehen, dass wir dann unser Gewicht auf der jeweiligen Sitzfläche regelrecht abladen, anstatt unsere Ausrichtung zu erhalten, um unsere Position jeder Zeit wieder schadlos verändern zu können. "Wenn jemand, der unterbewusst kontrolliert ist, sich hinsetzt und dann die Sitzfläche auch nur berührt, macht er völlig überflüssige Bewegungen und nimmt Veränderungen in seiner Ausrichtung und beim Allgemeinzustand seines Organismus vor, die vollkommen unnötig sind." Dies schreibt F. M. Alexander in "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), der deutschen Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL. Das Ergebnis kann eigentlich niemanden wirklich überraschen: Wir haben vermehrt mit Nacken- und anderen Schmerzen zu kämpfen.

F. M. Alexander hat auch aufgezeigt, dass Fitnesstraining und Sport die Dinge keineswegs besser machen. Mit ihnen könnten zwar durchaus die einen oder anderen Fehler korrigiert werden, nur kämen dabei andere Mängel stärker zum Vorschein. "Keine Fitnessübung der Welt kann nämlich dem Körper in seiner Gesamtheit guttun, wenn die instinktive Kontrolle des Übenden falsch und er schlecht koordiniert ist", heißt es in dem Vortrag von A. Murdoch an anderer Stelle.

Immer wieder einmal hat man auch versucht, den jeweilgen Sitzmöbeln die Schuld an der Misere zu geben. Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit, in der das Sitzmobiliar aus Stühlen mit gerader Rückenlehne bestand. Als ich dann als Lehrer in einer Gesamtschule anfing, wurden die Schüler auf "ergonomisch" geformte Stühle mit einer geschwungenen und schwingenden Rückenlehne gesetzt. (Diese Stühle sollten auch die Fortschrittlichkeit dieser neuen Schulform dokumentieren.) Als dieses Mobiliar in die Jahre gekommen war, waren dann wieder Stühle mit auffallend gerader Rückenlehne angesagt. F. M. Alexander sei wiederholt nach seiner Meinung zum richtigen Mobiliar gefragt worden. Ich zitiere noch einmal aus "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert": "Welche Stühle oder Hocker, welche Tische, oder Schreibpulte sind die richtigen, um die schlechten Gewohnheiten zu verhindern, von denen man annimmt, dass sie durch das schlechte Schulmobiliar verursacht werden? (.....) Vielleicht sollte dieses Problem einmal im Lichte der Vernunft betrachtet werden. Nehmen wir nur einmal an, es gäbe ein solches wundersames Gefüge aus Winkeln, Wölbungen und Stützpunkten wirklich, das wie durch Zauberhand auch jeden Fehler im Körpermechanismus des Kindes verhindert. Und nehmen wir ruhig weiter an, das Kind fände auch Behaglichkeit und Ruhe, wenn es auf dem Stuhl sitzt. Wie aber soll verhindert werden, dass es Qualen erleidet, wenn es mit all dem konfrontiert wird, was unbequem ist? Wenn es Auto fährt? Wenn es sich zuhause hinsetzt? Wenn es Freunde besucht? Wenn es am Fluss ein Picknick macht? Ich sehe nur eine Möglichkeit: Wenn es diesen idealen Stuhl gäbe,müsste ihn unser Kind überall mit hinnehmen, wohin es auch geht. (........) Nein! Was wir brauchen, ist nicht eine ideale Konstruktion der Schulmöbel. Was wir brauchen, ist die ideale Ausbildung unserer Kinder. Gib einem Kind die Fähigkeit, sich selbst (....) an seine Umweltbedingungen anzupassen, und es wird erst gar keine Unannehmlichkeiten erleiden und auch keine schlechten Körpergewohnheiten entwickeln, ganz gleich auf welchen Stuhl es sich setzt."

Wenn Kinder mit der Alexandertechnik ausgebildet werden, mit der sie lernen, dass ein Nein von ihrer Seite eine Reaktion auf einen Reiz unterbinden kann, mit der sie erfahren, dass sie ihrer zuverlässiger werdenden sinnlichen und insbesondere ihrer kinästhtetischen Wahrnehmung ihr vollstes Vertrauen schenken können und dass die verschiedenen Selbstbefehle, die in der Ausbildung zur Anwendung kommen, Wirkung zeigen, haben sie sehr viel Spaß und große Freude daran.

Bei einem Erwachsenen gestaltet sich eine Ausbildung allerdings oftmals schwieriger, manchmal sogar sehr viel schwieriger. Er muss nämlich zum einen zunächst einmal akzeptiert haben, dass er persönlich beispielweise für seine Nackenprobleme selbst verantwortlich ist, weil er selbst es ist, der für die Verhältnisse sorgt, die die Schmerzen verursachen. Und zum anderen müssen die schlechten Gewohnheiten gebrochen werden, die zu den Nacken- oder anderen Schmerzen geführt haben.

Bis bald

Dein Großvater

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