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Im Brennglas der Alexandertechnik: Fibromyalgie


Liebe Marie,

bei Fibromyalgie litten die Betroffenen unter Schmerzen, für die es augenscheinlich keine Ursache gebe, heißt es in einem Artikel der Westfälischen Rundschau vom 12. August 2019. "Die rätselhafte Krankheit" sei mit einer Reizregulationsstörung im Gehirn zu erklären. Die am besten identifizierten Risokofaktoren für eine solche Störung seien "belastende Lebensereignisse, traumatische Erlebnisse in der Kindheit, Dauerstress oder Schlafstörungen". Die üblichen Verdächtigen eben.

Es ist jetzt fast zehn Jahre her, dass ich, um wieder in die tiefe Hocke zu gelangen, für mich die Vorstellung entwickelt hatte, ich müsse die Fuß-, Knie- und Hüfgelenke wie eine Ziehharmonika zusammenfalten. Abgesehen davon, dass diese Vorstellung an sich schon falsch ist, habe ich bei ihrer Umsetzung alles außer Acht gelassen, was mich die Alexandertechnik über Jahrzehnte gelehrt hatte: Ich war vollkommen auf mein Ziel fixiert. Wenn ich mich hingesetzt habe, habe ich absichtlich die Unterschenkel dadurch mehr in die Waagerechte bringen wollen, dass ich die Fußgelenke übermässig gebeugt habe. (Das Foto unten zeigt jedoch, dass die Unterschenkel in der Hocke relativ aufgerichtet bleiben.) Und ich habe alles "vergessen", was ich über die primäre

Kontrolle von Kopf, Hals und Rücken wusste und bisher darüber erfahren hatte. Ich hatte wahrlich meinen Verstand verloren. Es dauerte nicht lange, bis höllische Schmerzen mich zwangen, meinen Versuch abzubrechen, und mich ans Bett fesselten. Wochenlang war an ein Leben ohne Schmerzmittel überhaupt nicht zu denken.

Mein "Hausarzt" hat mir starke Schmerzmittel verschrieben, das Blutbild untersucht, was keinen Befund ergeben hat, und mich mit der Indikation "generalisierte Gelenkschmerzen" bzw. mit dem Verdacht auf "rheumatische Arthritis" zum Radiologen überwiesen. Dort wurden Röntgenbilder gemacht und ein Szintigramm erstellt. Die Ergebnisse waren zum einen durchaus erfreulich: Ein unauffälliger Befund in den Lungen; keine Herzvergrößerung; keine Infiltrationen und keine Verschattungen; kein tumorverdächtiger Befund; beide Zwerchfelle glatt; beide Lungen unauffällig belüftet; das Herz nach Größe und Form unauffällig, das Mediastinum nicht verbreitert; die Trachea, die Luftröhre, mittelständig; keine Facettenarthrose oder Spondylodiszitis; der ISG-Index mit 0.9 bzw. mit 1.1 im Normbereich; in beiden Nieren keine Abflussbehinderung und im Lendenwirbelbereich keine Facettengelenkarthrose. Auf der anderen Seite wurden durch das Szintigramm Entzündungen im Bereich beider Sprunggelenke, beider Knie und der Befund einer gegenerativen Veränderung im Bereich der Brustwirbelsäule, der jedoch unauffällig sei, bestätigt. Zudem stellte es Entzündungen in der linken Fußwurzel und im linken Daumengelenk dar.

Die letzte Diagnose besagte, dass es sich bei mir um einen "polyarthritischen Befall beider Sprunggelenke, der linken Fußwurzel, beider Kniegelenke und eines Gelenks des linken Daumens handelte. Wenn sich mein Handlungsmuster verfestigt hätte, hätte sich wohl das ausgebildet, was nach heutigem Kenntnisstand der Medizin Fibromyalgie genannt wird. Weil ich jedoch frühzeitig zu den Grundfesten der Alexandertechnik zurückgekehrt bin, wurde eine solche Entwicklung schon im Ansatz gestoppt und ich konnte bereits nach weniger als einem Jahr zur Überraschung aller wieder auf meinem vorherigen Niveau Badminton spielen.

Um so weit zu kommen, war es zunächst notwendig, allmählich die Schmerzmittel abzusetzen, weil mit ihnen die Wahrnehmung des Schmerzes ausgeschaltet wurde. Eine Beeinträchtigung in einem Feld der Wahrnehmung hat nämlich zur Folge, dass die sinnliche Wahrnehmung insgesamt beeinträchtigt wird, so F. M. Alexander. Die nahezu unerträglichen Schmerzen hatten verhindert, dass ich in Bezug auf die Fußgelenke weiterhin das Falsche tat, ja sie haben bewirkt, dass ich fast alle meine Tätigkeiten eingestellt habe. Dies und das erfolgreiche Ausschleichen aus dem Schmerzmittel, was dazu führte, dass ich wieder klar denken konnte, ließen es zu, dass ich mich wieder an die Prinzipien der Alexandertechnik gehalten habe. Vor allem anderen stellte ich weitgehend sicher, dass ich nicht in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingegriffen habe. Weil ich mein Experiment mit den Fußgelenken bewusst und absichtlich durchgeführt hatte, war ihr falscher Einsatz in der kurzen Zeitspanne des Experiments noch nicht zu einer unterbewussten Gewohnheit geworden und so war es nicht allzu schwierig, diesen falschen Gebrauch zu unterbinden, zu hemmen, wie es der Sprachgebrauch in der Alexandertechnik ist.

In der Nachbetrachtung möchte ich diese Erfahrung wahrlich nicht missen. Sie hat voll und ganz das Vertrauen gerechtfertigt, das ich jahrzehntelang der Alexandertechnik entgegengebracht habe. Sie hat mein Selbstvertrauen gestärkt und mir die Gewissheit gegeben, dass mein Verständnis der Alexandertechnik mehr als nur ausreichend ist, um die Bücher F. M. Alexanders ins Deutsche zu übersetzen. Mehr noch: Ich wurde mir sicher, dass es im deutschsprachigen Raum niemanden gibt, der besser dafür geeignet war und ist. Davon kann sich jeder überzeugen, der "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BooksonDemand, 2018), die deutsche Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL und "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE liest. Und im Herbst 2019 wird voraussichtlich meine Neuübersetzung von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING "Die Konstante im Fluss des Lebens" bei BooksonDemand erscheinen.

F. M. Alexander hat durchaus gesehen, dass auch ein in der Alexandertechnik ausgebildeter Mensch immer einmal wieder vom rechten Wege abkommen kann. Er werde es in aller Regel allerdings sehr schnell merken, weil er sich auf seine sinnliche Wahrnehmung wirklich verlassen kann. Dann müsse er auf demselben Weg bis zu der Stelle zurückkehren, an dem er in die Irre geleitet worden ist, oder, wie in meinem Fall, an dem er absichtlich den Weg verlassen hat, um etwas auszuprobieren.

Und wie weit Dein Großvater inzwischen in die tiefe Hocke gehen kann, das zeigt er Dir, liebe Marie, bei seinem nächsten Besuch.

Bis dahin

Viele Grüße

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