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Im Brennglas der Alexandertechnik: Der Gebrauch des Smartphones


Liebe Marie,

ich gebe es frank und frei zu: Der Artikel "Eltern, die auf Smartphones starren" - der Titel ist eine Anspielung auf den Film "Männer, die auf Ziegen starren" - hat mir große Freude und auch Genugtuung bereitet, weil er "Wasser auf meine Mühlen" ist.

Zwölf Jahre nachdem das erste iPhone auf den Markt gekommen ist, wirke das Handy bei sehr vielen Menschen wie mit der Hand verwachsen. Besonders negative Auswirkungen habe es in der Erziehung: Kinder brauchten in den ersten zehn Lebensjahren vor allem Geborgenheit und Sicherheit; die Erfahrung, dass sie geliebt und ihre Bedürfnisse durch ihre Eltern wahrgenommen werden. Grundlage für eine gute Entwicklung zur Selbständigkeit und zur Beziehungsfähigkeit seien Blickkontakt und liebevolle Zuwendung durch die Beziehungspersonen, heißt es in einem Artikel in der Westfälischen Rundschau vom 22. Juni 2019.

Gerade Blickkontakt und liebevolle Zuwendung würden stark reduziert, wenn "Mütter und Väter sich mehr und mehr mit dem Handy beschäftigen statt mit ihren Kindern". Wenn das Kind von Vater und Mutter nicht mehr so sehr in den Blick genommen werde, verliere es den Spiegel, der ihm in der Mimik der Eltern das Mitgefühl zeigt, wenn es sich z. B. gestoßen hat, oder in dem ein Lächeln erwidert werde. Kleinkinder seien zudem von den plötzlichen Stimmungsschwankungen überfordert, die ein Handygespräch auslösen kann, weil sie sie nicht wirklich einorden können. Wenn Eltern generell das Handy im Blick haben und nur noch eher selten in das Gesicht ihres Kindes schauen, fange das Kind zunächst an, um die Aufmerksamkeit zu buhlen: es wird vielleicht quengelig, macht lautstark auf sich aufmerksam, macht etwas kaputt oder wirft mit Sachen um sich. Am Ende geben solche Kinder oftmals auf, ziehen sich zurück und verlieren ihren natürlichen Antrieb, die Welt entdecken und begreifen zu wollen.

Wenn das Kind dann quengelig geworden ist, werden auf den fundamentalen Erziehungsfehler, seinem Kind nicht die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, noch weitere Fehler draufgesattelt. Man sucht das Kind dadurch zu beruhigen, dass man es mit einem Eis, mit anderen Süßigkeiten, mit immer neuem Spielzeug und schließlich mit einem Handy für sich selbst ablenkt. Mit dem eigenen Handy ist es nicht mehr weit, bis der Rückzug des Kindes komplett ist.

Es soll sich aber niemand selbst belügen und argumentieren, man wolle das Kind mit dem eigenen Handy frühzeitig fit machen für seine Zukunft. Bei seiner Nutzung imitiert das Kind nämlich vor allem auch den schlechten Gebrauch der Eltern, wenn sie "auf den Bildschirm starren". In Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (BoD, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL, schreibt F. M. Alexander: "Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass es eine natürliche Begabung und unterbewusste Neigung zur Imitation gibt. Und auch die schädlichen Konsequenzen, die durch Imitation bewirkt werden, sind unbestreitbar."

Die Kinder übernehmen unterbewusst den Starrblick ihrer Vorbilder auf das Display. Sehr schnell nimmt die Akkommodationsfähigkeit ihrer Augen ab. Wenn dieses Starren auf den Bildschirm zu einer Gewohnheit geworden ist, fällt es dem visuellen Wahrnehnungssystem mit der Zeit immer schwerer, zwischen Nah- und Fernbereich hin- und herzuwechseln. Dies kann durchaus eine Erklärung dafür sein, warum heute die Augenarztpraxen voll von jungen Menschen sind, wie mir glaubhaft berichtet worden ist. Auch verabschieden sich die jungen Leute bereits mehr und mehr aus der dreidimensionalen Welt. Wenn man sich nämlich in die zweidimensionale Welt der Bildschirme und Displays zurückzieht, verlieren die Augen allmählich die Fähigkeit, die dritte Dimension wahrzunehmen. Mit den entsprechenden Augengläsern soll der Defekt ausgeglichen werden. Nur ist Sehen nicht allein von gut funktionierenden Augen abhängig, sondern auch von der Vorstellung, dem Denken und dem Gedächtnis des Einzelnen. So ist es auch nicht so sehr verwunderlich, dass die Anzahl der Menschen, bei denen sich geistige Störungen ausgebildet haben, dramatisch in die Höhe geschnellt ist und weiter steigt. Weil es für die betreffenden Menschen schwierig ist, ihre von der zweidimensionalen Welt des iPhones geprägten zweidimensionalen Vorstellungen mit der realen Welt in Einklang zu bringen und weil sich ihre Gedächtnisleistung wegen des schnellen Verfalls der übermittelten Inhalte, die beständig durch neue ersetzt werden, weiter verschlechtert, werden uns Angststörungen, Panikattacken, Depressionen, Hypochondrie, Zwangsvorstellungen und die Borderline-Erkrankung mehr und mehr beschäftigen. Zudem ist der so typische Gebrauch beim Schreiben oder Lesen von Nachrichten auf dem Handy - der versteifte Nackenbereich, der zurückgezogene Kopf und die zurückgezogenen Schultern, die mehr oder weniger starke Beugung nach vorn, die Blickrichtung nach unten - ein Nährboden nicht nur für diese Erkrankungen, sondern für Krankheit ganz allgemein.

In Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen schreibt F. M. Alexander dazu, dass die Urängste, vor Blitz und Donner z. B., zu unserem unterbewussten Erbe der Evolution gehören. "Jetzt sieht sich der Mensch auch anderen Angst auslösenden Situationen ausgesetzt, die inzwischen zu seinem Leben gehören. Eine neue Form von Angst hat sich zu seiner Urangst vor dem Unbekannten hinzugesellt. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit der einseitigen Entwicklung, die im Organismus des Menschen stattgefunden hat. Weil eine unausgewogene geistig-körperliche Entwicklung negative Auswirkungen auf alle Bereiche hat, ist sie immer auch mit Angst beladen." Und in Kapitel 6 schreibt er: "Übermäßig erregte Angstreflexe, ungezügelte Emotionen,Vorurteile und feste Gewohnheiten sind Faktoren, die die Entfaltung des Menschen verzögern. (.....) Sie sind auf unterbewusster Ebene an all die geistig-körperlichen Prozesse gekoppelt, die bei Wachstum und Entwicklung des Menschen Verwendung finden." Weiter heißt es dort: "Es gibt nur eine Möglichkeit, (Sicherheit in seinen Handlungen) und Selbstvertrauen zu erlangen: Man muss eine klare Vorstellung darüber gewinnen, was für die erfolgreiche Ausführung (...) einer Handlung notwendig ist, und man muss die geist-körperlichen Mittel kennen, mit denen die Bedingungen für ein Gelingen der Handlung erfüllt werden können."

Dieser so typische Gebrauch des Einzelnen, wenn er oder sie das iPhone zum Schreiben oder Lesen nutzt, oder der schädliche Gebrauch beim Telefonieren mit schräg gestelltem Kopf sind die Ansatzpunkte für eine fundamentale Verhaltensveränderung, bei der sich der Mensch auch

darüber bewusst wird, dass er seinem Kind Schaden zufügt, wenn er es ignoriert. Damit der individuelle Gebrauch so verändert werden kann, dass der Mensch nicht länger in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingegreift, müssen bei ihm ganz bestimmte Qualitäten entwickelt werden: Er muss lernen, einen beliebigen Reiz hemmen zu können; seine sinnliche Wahrnehmung muss so geschult werden, dass er sich wirklich auf sie verlassen kann; die verschiedenen Teile des Körpers sind zu koordinieren und neu auszurichten; er muss eine bewusste Steuerung und Kontrolle erlernen, die verhindert, dass das primäre Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken gestört wird; und manches andere mehr.

Dies wird wahrlich nicht von heute auf morgen gelingen. Aber ein fähiger Alexanderlehrer wird in

einem Jahr oder so die Grundlagen so weit gelegt haben, dass sein Schüler - mit der einen oder anderen Auffrischung von Zeit zu Zeit - selbständig den Weg bewusster Kontrolle und Steuerung weitergehen kann. Mit einer solchen bewussten Steuerung und Kontrolle werden die Handlungen und Entscheidungen mehr und mehr von Verstand und Vernunft geprägt sein. Bauchgefühl und Instinkt werden dann ausgedient haben und dort landen, wo sie eigentlich schon seit längerem hingehören: In die Mottenkiste der Evolution oder "Auf den Friedhof der Kuscheltiere", wie ein anderer Filmtitel lautet.

Bis bald

Dein Großvater

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