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Im Brennglas der Alexandertechnik: Kindererziehung


Liebe Marie,

in seinem Werk Education stellt der Philosoph Hubert Spencer auch die folgenden Fragen:"Wie gehen wir mit unserem Körper um? Wie setzen wir unseren Verstand ein? Wie regeln wir unsere Angelegenheiten? Wie verhalten wir uns als Bürger? Wie nutzen wir die Quellen, die uns die Natur zur Verfügung gestellt hat? Wie können wir alle unsere Begabungen am vorteilshaftesten einsetzen? Wie können wir ein Leben führen, das vollständig ist? Das sind die wirklich wichtigen Dinge, die es zu lernen gilt. Auf diese Fragen muss auch Erziehung eine Antwort finden. Die Menschen darauf vorzubereiten, das Leben bis zum Letzten auszuschöpfen, das ist die Aufgabe, der Erziehung nachkommen muss."

In Paragraf 1631 des Bürgerlichen Gesetzbuches steht: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung." Dieses Recht werde durch alle Bildungs- und Einkommensschichten nicht selten mit Füßen getreten, heißt es in einem Artikel der Westfälischen Rundschau vom 27. Mai 2019. Glücklicherweise würden die Kinder heute in den Schulen in der Regel nicht mehr geschlagen und auch in den Familien sei körperliche Gewalt inzwischen weitgehend verpönt. Aber Ignoranz und insbesondere lautes, bedrohliches und häufiges Anschreien seien andere Formen der Gewalt gegen Kinder, die nicht selten angewendet werden und die ebenso wie die körperliche Züchtigung posttraumatische Belastungsstörungen auslösen können, wird Christine Freitag, die Direktorin der Klinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters der Universitätsklinik Frankfurt zitiert.

Die Erziehung der Kinder war auch F. M. Alexander ein großes Anliegen. In Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert (BooksonDemand, 2018), der Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE ins Deutsche, schreibt er: "In einer Welt aber, die sich so rapide verändert, wie es gerade im 20. Jahrhundert geschieht, brauchen wir mehr denn je ein Erziehungssystem, das die Kinder durch die ersten Jahre führt. Dies bedeutet wahrlich keinen Widerspruch zu dem, was ich zuvor über die Erziehungsmethode der beständigen Überwachung gesagt habe. Es ist nämlich ein riesiger Unterschied, ob ich den Körpergebrauch und das mentale Verhalten korrigiere, weil es notwendig ist, oder ob ich versuche, ein Kind in eine bestimmte, vorgefasste Form zu pressen. Ich bin zum Wohle des Kindes ein ausgesprochener Verfechter des ersteren. Ich muss darauf bestehen, dass die Kinder der heutigen Zeit, die nur mit sehr schwachen Fähigkeiten zur Kontrolle durch den Instinkt ausgestattet sind, gewisse genau definierte Anweisungen erhalten, die es ihnen ermöglichen, sich selbst zu steuern, bevor man sie mit freier Aktivität konfrontieren kann. Die betreffenden Anweisungen müssen auf einem Prinzip basieren, das dem Kind hilft, seine unterschiedlichen Mechanismen so zu benutzen, dass sie bei allen Aktivitäten des täglichen Lebens in höchst vorteilhafter Weise funktionieren. Diese Anweisungen führen bei dem Kind keineswegs zu Einschränkungen bei seinen Lebensäußerungen. Sie steigern und entwickeln aber die Mittel, mit denen das Potenzial des Kindes angemessen und zur vollsten Zufriedenheit freigesetzt werden kann.

So ist es nun einmal: Die obigen Prinzipien müssen und werden bestimmte Verbote durchaus mit einschließen. Wenn wir aber sofort die wesentlichen Faktoren auswählen, die die Wurzel des Übels sind, anstatt uns bloß mit ihren Wirkungen zu beschäftigen, werden dafür die beständigen Ermahnungen und die Meckerei unnötig, die ein Laster des alten Systems waren und sind. Auch das ist ein Thema der neuen Erziehung, die Kinder von ständiger Ermahnung und Nörgelei zu befreien."

Diese Zeilen sind 1918 veröffentlicht worden. Wenn F. M. Alexander schon damals davon spricht, dass sich "die Welt rapide verändert", um wie viel mehr hat diese Aussage Gültigkeit für die heutige Zeit und um wie viel mehr brauchen wir heute erst recht "ein Erziehungssystem, das die Kinder durch die ersten Jahre führt"? Was das Anschreien betrifft, befinden sich die Ansichten

F. M. Alexanders auf der Höhe der augenblicklichen Diskussion in der Pädagogik. Dem "Jeder ist o.k., wie er ist", dem Grundsatz des Handlungskonzepts der "Gewaltfreien Kommunikation" (GfK), das M. Rosenberg in den 1960er Jahren entwickelt hat und das heute eine Renaissance erlebt, hätte F. M. Alexander aber vehement widersprochen. Dieses "Jeder ist o.k., wie er ist" war damals schon falsch: Es konnte nur von jemandem aufgestellt werden, der blind für die geistig-körperlichen Realitäten der Menschen gewesen ist. Und es ist heute nicht weniger falsch, wenn man den desolaten Gebrauch der großen Mehrzahl der Menschen, auch der jungen Menschen, zum Maßstab nimmt. Es ist eben nicht o.k., wenn in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingegriffen wird; es ist nicht o.k., wenn die einzelnen Körperteile unkoordiniert gebraucht werden; es ist nicht o.k., wenn sich schädliche Gewohnheiten entwickeln; es ist überhaupt nicht o.k., wenn gewohnheitsmäßig der Hals angespannt, der Kopf zurückgezogen, die Wirbelsäule verkürzt, der Rücken eng und die Schultern eingezogen werden. Die Liste der Dinge, die nicht o.k sind, könnte beliebig verlängert werden. Diese Dinge sind nicht o.k., weil die Auswirkungen, die sich früher oder später aus diesen falschen Verhaltensweisen ergeben werden, mehr oder weniger so schädlich sind, wie es derzeit an den hohen Krankenzahlen und an den vielen und immer wieder neuen Krankheitsbildern abzulesen ist.

Wer darauf setzt, dass die Dinge, die ich oben angesprochen habe, sich mit der Zeit schon wie von selbst geben werden, verkennt, welch eine Macht die Gewohnheit über jeden von uns hat. Wer davon ausgeht, dass die Kinder selbst spüren, was gut für sie ist, hat nicht die veränderte Ausgangslage in unserer schnelllebigen Zeit im Blick: Wir können uns heute wahrlich nicht mehr auf unseren Instinkt und unsere Intuition verlassen! Das Niveau der sinnlichen Wahrnehmung befindet sich zudem schon seit vielen Jahrzehnten auf einem Sinkflug. Wer aus Unkenntnis der Fakten diese Dinge nicht beachtet, sollte sich wirklich kundig machen. Wer sie gar nicht erst wahrnimmt, der sollte sich dafür die Augen öffnen lassen. Wer aber ganz bewusst darüber hinwegsieht, macht sich der Ignoranz schuldig, die in dem Artikel der Westfälischen Rundschau neben der körperlichen Züchtigung und dem Anschreien als eine dritte Geißel der Erziehung genannt wird, wie die Haltung "Jeder ist o.k., wie er ist" vom Prinzip her nicht weit von ignorantem Verhalten entfernt ist.

In der Alexandertechnik kommen Anweisung, Befehl oder Verbot nicht "nackt" daher. Sie werden begleitet von Erklärung, Erläuterung und Demonstration. "Man kann in einem Kind den Ausdruck von Interesse, Zufriedenheit und Glück hervorrufen, wenn man es geschafft hat, ihm das erste Mal das Verständnis dafür zu vermitteln, dass sein allzu verspannter Hals und vieleicht auch sein zurückgezogener Kopf tatsächlich nicht auf einem generellen Fehler seines Halses beruhen. Das Kind zeigt Glück und Zufriedenheit, wenn es verstanden hat, dass die Verspannungen seines Halses andere Ursachen haben: Seine Halsmuskeln tun nämlich Dinge, die eigentlich von anderen Mechanismen erledigt werden sollten." Dies schreibt F. M. Alexander in Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (BoD, 2018), der Neuübersetzung ins Deutsche von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL. Wenn ich einem Kind etwas erkläre oder demonstriere, zeige ich ihm auch, dass ich es ernst nehme.

Zudem erhält das Verbot das Gewand der positiven Kraft der Hemmung: Eine Anweisung, einen Befehl des Lehrers darf das Kind nämlich nicht auf seine gewohnte Art und Weise ausgeführen, wenn es überhaupt eine Chance geben soll, das Gewünschte, eine verbesserte Primärkontrolle über das Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken, zu erreichen. Dieses Spiel mit der Hemmung bereitet den Kindern durchaus große Freude, wenn sie erkennen, was sie durch ein simples Nein erreichen können. In der normalen Erziehung "werde ein Nein des Kindes sehr ungern akzeptiert", wird der Sozialpädagoge T. Peters in der Westfälischen Rundschau zitiert. In der Alexandertechnik ist es unbedingt notwendig, um Veränderungen des Verhaltens in die Wege leiten zu können.

Bis bald

Dein Großvater

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