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Im Brennglas der Alexandertechnik: Fehlsichtigkeit


Liebe Marie,

"Gutes Sehen nützt, Gutes Sehen schützt", so lautete vor nicht allzu langer Zeit ein Werbespruch der Optikerinnung. Wer wollte dieser Aussage widersprechen? Nur scheint es um das gute Sehen gegenwärtig eher schlecht bestellt zu sein. Darauf deutet, dass dem Thema eine extra Seite in der Wochenendausgabe der Westfälischen Rundschau vom 11. Mai 2019 gewidmet worden ist. Und darauf deutet auch, dass heute die Brille eher der Normalfall als die Ausnahme ist.

"Weil das Sehen ein sehr komplexer Vorgang ist", bei dem es auf das Zusammenspiel von Augen, zentralem Nervensystem und Gehirn ankomme, "sprechen Experten auch gerne vom visuellen System". Permanent treffe ein Strom von Sinneseindrücken Augen und Netzhaut und aktiviere die Nervenzellen. Erst im Gehirn entstehe dann aber das Abbild unserer Außenwelt. Das Gehirn sei es, dass die Sinneseindrücke filtere, sortiere und geschickt mit anderen Inhalten und Erfahrungen verknüpfe. So wird der Sehvorgang in meiner Tageszeitung beschrieben.

Wer sich mit dem visuellen System auseinandersetzen will, kommt eigentlich nicht an dem vorbei, was Dr. med. W. H. Bates vom Vorgang des Sehens zu sagen hat. Er hatte vehement den herkömmlichen Meinungen zur Fehlsichtigkeit widersprochen, wonach "das menschliche Sehorgan niemals (dazu) geschaffen und bestimmt gewesen sei, Leistungen zu erfüllen, wie sie die heutige Zeit verlangt." Künstliches Licht, Buchdruck, Schreibkunst, Kino und Mattscheibe hätten den scheinbaren Niedergangsprozess des Sehvermögens beschleunigt, so die herkömmliche Erklärung der Augenmedizin. Nur eine von zehn Personen könne sich seine volle Sehkraft bewahren. Und fast niemand in den Mittvierzigern komme um eine Lesebrille herum, heißt es in der populär-wissenschaftlichen Literatur. Dr. Bates weist darauf hin, dass von den Behandlungsmethoden mit korrigierenden Augengläsern niemals eine wirkliche Besserung zu erwarten sei. Diese Erfindung gleiche bestenfalls äußere Symptome zeitweilig aus, konserviere und verfestige aber dadurch gleichzeitig den ursächlichen psychosomatischen Fehlzustand für eine zeitlich nicht begrenzte Trageperiode. Die Brille lasse den Bewegungsapparat des Auges auf schleichende Weise verkümmern. Auch Kontaktlinsen seien nicht weniger heimtückisch. Die Augenheilkunde ist sich heute der Unzulänglichkeit der Brille durchaus bewusst. (vgl. dazu: Dr. med. W. H. Bates, Rechtes Sehen ohne Brille, Rohm-Verlag, 1991, Seiten 19ff) Warum sie trotzdem weiter auf diese "Krücke" setzt? - Vielleicht weiß sie sich nicht besser zu helfen?

Dr. Bates sieht die Ursache für Fehlsichtigkeit in vorherrschenden psychosomatischen Zuständen. Hierin liegt er durchaus ganz auf einer Linie mit F. M Alexander, nur ist dieser noch einen Schritt weitergegangen: Er hatte nämlich erkannt, dass jegliche sinnliche Wahrnehmung abhängig ist vom guten oder schlechten Gebrauch eines jeden Einzelnen. Weil das Sehen ein Teilbereich der Wahrnehmung über die Sinne ist und weil alles mit allem verbunden ist, bedeutet Fehlsichtigkeit, dass die übrigen Sinne ebenfalls Schaden genommen haben oder noch nehmen. Zudem ist nicht nur die sinnliche Wahrnehmung vom Gebrauch abhängig, tatsächlich ist jeder geistig-körperliche Defekt auf einen falschen Gebrauch zurückzuführen.

Die Verfahrensweise in der Alexandertechnik muss zwangsläufig indirekt sein. Andernfalls, bei einem direkten, zielorientierten Vorgehen, würden nämlich die alten schädlichen Gewohnheiten des Gebrauchs, die darin gipfeln, dass der Betroffene in das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken eingreift und die ja erst die Fehlsichtigkeit hervorgebracht haben, augenblicklich wieder zum Tragen kommen.

Unter den Bedingungen der Zivilisation haben nahezu alle Menschen einen Zustand entwickelt, in dem ihre sinnlche Wahrnehmung mehr oder weniger fehlerhaft und trügerisch sei. Dies schrebt F. M. Alexander in seinem Buch "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BoD, 2018), der deutschen Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL. Ein Mensch könne sich folglich nicht mehr auf seine Wahrnehmung verlassen, wenn die Teile seines Körpers neu justiert und neu koordiniert werden sollen oder wenn er sich darum bemühe, etwas an sich selbst zu korrigieren. Deshalb ist es eine der Hauptaufgaben eines Alexanderlehrers, "durch den geschickten Einsatz seiner Hände" dem Schüler die neuen und richtigen sinnlichen Erfahrungen zu vermitteln. Dem Schüler obliegt es allein, die Befehle, die ihm von seinem Lehrer an die Hand gegebenen worden sind, zu memorieren und "sein Verlangen zu unterdrücken, sie in die Tat umzusetzen", so dass der Lehrer "die erforderlichen Justierungen vornehmen und die notwendingen Koordinationsverhältnisse herstellen kann, indem er seinen Schüler durch die zu den Befehlen gehörende Bewegung oder die dazugehörgen Bewegungen führt." Auf diese Weise erhält der Schüler die richtigen kinästhetischen Erfahrungen, die mit diesen Bewegungen verbunden sind.

F. M Alexander hat in seiner Technik verschiedene Verfahren entwickelt, mit denen der Schüler wahrzunehmen lernt, wo sich die Teile seines geistig-körperlichen Organismus in Relation zueinander wirklich befinden und wie hoch dort die aktuelle Muskelspannung ist. Mit zunehmender kinästhetischer Wahrnehmung, wie diese Art der Wahrnehmung bezeichnet wird, gelangen mit Hilfe der Alexandertechnik alle Teile des geistig-körperlichen Organismus nach und nach wieder an ihren angestammten Platz und mehr und auch die jeweiligen Spannungsverhältnisse werden mehr und mehr registriert. All das hat zur Folge, dass auch die übrigen Sinne allmählich wieder voll funktionstüchtig werden. So verringern sich auch die Kräfte, die den Augapfel in dieser oder jener Richtung zur Kurz- oder Weitsichtigkeit verformen, so dass sie schließlich den jeweiligen Anforderungen entsprechend wieder harmonisch zusammenwirken. Die Muskeln der Augen erledigen ihre Aufgaben wieder mit der angemessenen Spannung, ohne zu verspannen. Das Auge sucht das Bild der Außenwelt von Punkt zu Punkt ab, ohne dabei zu fixieren und kann wieder richtig sehen. Dies kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen.

Ich war siebzehn oder achtzehn Jahre alt, als mir eine Brille verschrieben wurde, weil ich das, was an der Schultafel stand, nicht mehr so gut lesen konnte. Mit fünfundzwanzig bin ich dann auf Kontaktlinsen umgestiegen, weil die Brille mich bei meinem Handballsport sehr eingeschränkt hatte. Mit zweiunddreißig sollte ich aufrund einer chronischen Bindehautentzündung, die sich durch das Tragen der Linsen entwickelt hatte, zur Brille zurückkehren. Das wollte ich aber auf keinen Fall. Es waren dann die Alexandertechnik in Verbindung mit der Methode des "Zentralen Sehens" von Dr. Bates, die mich von meiner Kurzsichtigkeit weitgehend befreit haben. Und auch heute noch brauche ich keine Lesebrille, obwohl ich inzwischen täglich zwei bis drei Stunden am Bildschirm sitze, um Texte zu übersetzen oder meinen wöchentlichen Blog am Sonntag zu bearbeiten.

Um zu lernen, es einzuschätzen, "ob die Höhe der Muskelspannung in einer bestimmten Situation angemessen und passend ist", hat F. M. Alexander das Verfahren "Die Hände umfassen die Rückenlehne eines Stuhles" entwickelt. Dabei "wird ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, was die Hände und Arme tun müssen. (....) Und eine ganz besondere Beachtung wird dabei den Positionen der Finger, der Handgelenke und der Ellenbogen geschenkt." Die richtige Ausführung dieses Verfahrens verlange einen koordinierten Gebrauch von Körper, Beinen und Armen und des Muskelsystems im Allgemeinen. Wenn F. M. Alexander von Armen, Beinen, Händen und Füßen usw. spreche, setze er "immer ihren koordinierten Gebrauch mit dem Körper voraus, so dass sie von ihm gestützt werden. Man könnte wahrlich sagen, dass in diesem Sinne der Körper für einen Baumstamm steht und die Arme (und Beine) für seine Äste.​

Bis bald

Dein Großvater

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