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Im Brennglas der Alexandertechnik: Geistige Fitness


Liebe Marie,

nicht nur der Körper wolle fit gehalten werden, auch das Gehirn brauche immer wieder neue Herausforderungen, um nicht abzubauen. Das Gehirn sei wie ein Muskel, der ja auch schwächer werde, wenn er nicht trainiert werde. Und erste Anzeichen einer Degeneration seien heute schon "ab dem jungen Erwachsenenalter nachweisbar", heißt es am 6. Mai 2019 in einem Artikel in der Westfälischen Rundschau.

Experten geben den allgmeinen Ratschlag, so früh wie möglich auf einen gesunden Lebensstil zu achten, um eine Degeneration des Gehirns gar nicht erst zuzulassen: "Aktiv sein! Sich körperlich fit halten! Soziale Beziehungen pflegen! Übergewicht vermeiden! Cholesterin, Blutzucker, Blutdruck, sowie Seh- und Hörvermögen regelmäßig kontrollieren! Nicht rauchen! Auf Alkohol verzichten!" Und fernsehen fordere das Gehirn nicht im Geringsten. Es schalte vielmehr einfach ab, erklärt Richard Dodel, Leiter des Lehrstuhls für Geriatrie an der Universität Duisburg-Essen. Mehr als eine Stunde pro Tag vor dem Fernseher zu verbringen, seien schon zu viel.

Der Gebrauch bestimmt die Funktion! So lautet das Erste Roux'sche Gesetz. Wenn ein Organ im menschlichen Organismus nicht oder nur wenig genutzt wird, verkümmert es. So ist es wirklich kein Wunder, dass auch das Gehirn degeneriert, wenn es nur unzureichend gebraucht wird, wenn das Gehirn nicht mehr dazu kommt, die eintreffenden Informationen zu ordnen, einzuordnen, mit anderen Informationen zu verknüpfen, zu interpretieren oder zu analysieren, weil wir heute ohne Unterlass mit Informationen jeglicher Art vollgestopft werden, so dass schlichtweg die Zeit fehlt, um den Informationsbrei noch zu verarbeiten. So nimmt nicht nur unsere Gedächtnisleistung verstärkt ab, wir verlieren auch mehr und mehr die Fähigkeit zur Analyse, zur Interpretaton oder zur Verknüpfung von Informationen.

Der Gebrauch bestimmt die Funktion! F. M. Alexander hat diesem Gesetz eine wesentliche Kategorie hinzugefügt: die Qualität des Gebrauchs. Er hatte herausgefunden, dass ein Gebrauch, der nicht in die primäre Kontrolle des Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken eingreift, ganz entscheidend für ein Wachstum und eine Entwicklung des Menschen mit den allerbesten Ergebnissen ist. Wird dieses Verhältnis gestört, ist das Ergebnis der Aktivität, die auf der Basis des gestörten Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken ausgeführt wird, nicht so gut, wie es sein könnte. Hat sich diese Störung zu einer Gewohnheit entwickelt, - wird also der Hals angespannt, der Kopf zurückgezogen, die Wirbelsäule verkürzt und der Rücken eng gemacht - hat dies für die Organe und die Funktionen des Menschen die verheerenden Folgen, die sich an den beständig steigenden Krankenzahlen ablesen lassen.

Ich sehe förmlich deinen ungläubigen Blick, liebe Marie. Eine Störung des Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken soll dafür verantwortlich sein, dass das Gedächtnis nicht richtig funktioniert? Einerseits ist das Geistige nicht vom Körperlichen zu trennen und umgekehrt. F. M. Alexander hat für diese Tatsache den Begriff "geistig-körperlich" geprägt, weil ihm kein Besserer eingefallen ist. In: Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert (BoD, 2018), der Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE ins Deutsche, weist er auf die unangenehmen psychischen Wirkungen hin, die aus anscheinend rein körperlichen Ursachen entstehen könnten. Er schreibt dann weiter:"Tatsächlich ist es aber so, dass der Doppelbegriff 'geistig-körperlich' eine Einheit bildet und es unmöglich ist, die Komponenten zu trennen und sie der einen oder anderen Ebene zuzuordnen." Und eigentlich seien sie noch sehr viel enger miteinander verzahnt, als es der Begriff 'geistig-körperlich' nahelege.

Und in: Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (BooksonDemand, 2018), der deutschen Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIDIVIDUAL schreibt F. M. Alexander:"Wenn jetzt ein Stadium in der Menschheitsentwicklung erreicht ist, dass das, was man gemeinhin als 'Gedächtnisverlust' bezeichnet, zu einem mehr oder weniger allgemeinen Defekt geworden ist, steht es uns gut zu Gesicht, die daran beteiligten geistig-körperlichen Bedingungen zu untersuchen (..) und die verschiedenen falschen Gebrauchsweisen der geistig-körperlichen Mechanismen genau unter die Lupe zu nehmen, die die Entwicklung dieser Bedingungen überhaupt erst ermöglicht haben. Nun sind es aber Eindrücke, die in Folge eines Stimulus oder mehrerer Stimuli im Gedächtnis gespeichert werden. Wie lange sie dort verbleiben, ist abhängig von bestimmten geistig-körperlichen Prozessen, die die Abspeicherung der Eindrücke betreffen. Die Effektivität dieser Prozesse hängt wiederum vom geistig-körperlichen Allgemeinzustand des Menschen ab. Eine wesentliche Rolle spielt dabei auch das Niveau der sinnlichen Wahrnehmung zu dem Zeitpunkt, da die Eindrücke jeweils im Gedächtnis gespeichert werden."

Zu den Bedingungen schreibt er: "Die sich ausbreitende Gewohnheit der Lektüre von Zeitung und Unterhaltungsliteratur............., die abnehmende Auseinandersetzung mit Büchern und anderen Materialien, die zu wertvollen Erkenntnissen führen können, ist von schädlichen geistig-körperlichen Gewohnheiten begleitet, die starke Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung des heutigen Menschen haben. Und diese Auswirkungen prägen sich je nach geistig-köperlichem Funktionsniveau des Einzelnen stärker oder schwächer aus. (.......) In der Regel lesen die Menschen aber das Gedruckte in den Zeitungen, Illustrierten, Magazinen und was es sonst noch von dieser Art gibt, nur hastig und unternehmen nichts, um das Gelesene zu memorieren. Auf dieselbe Art und Weise werfen sie einen Blick auf die Tagesnachrichten und registrieren davon nur das Wenigste. Für den Tag oder die Woche mag dies genügen. Wenn sie sich aber nach einem Monat erinnern wollen, verschwimmt das Gelesene bereits im Dunst des Vergessens und in einem Jahr wird der Gedächtniseindruck schließlich völlig verschwunden sein. (........) Das Überfliegen eines Textes, womit eher nur schwache Eindrücke von den gelesenen Inhalten aufgenommen werden, ist eine wahrlich schädliche Angewohnheit." Dies hat F. M. Alexander 1924 geschrieben. Wie viel mehr gilt dies für die heutige Zeit mit Fernsehen rund um die Uhr, Internet, iPhone und all den anderen zur Verfügung stehenden Medien. So sind die Menschen einem beständigen Strom an Informationen ausgesetzt, der einfach nicht mehr zu bewältigen ist.

Was an dieser Stelle helfen kann, ist eine Qualität, die auch in der Alexandertechnik eine entscheidende Rolle spielt, Hemmung: Nein zu sagen, wenn wieder ein Stimulus zur Aufnahme von Information auf mich trifft; das Fernsehgerät nicht rund um die Uhr laufen zu lassen; es nicht anzuschalten, um die neuesten und die allerneuesten Nachrichten geliefert zu bekommen, die aber, kaum dass ich sie mich erreicht haben, schon alte Nachrichten sind; nicht beständig nach neuen Informationen Ausschau halten, die ich im Internet vielleicht verpassen könnte; auf das Trommelfeuer der Werbung auf allen nur denkbaren Kanälen so zu reagieren, dass ich nein dazu sage, sie als Kaufimpuls zu sehen, sondern den Werbespot vielleicht danach analysiere, wie gut oder wie schlecht er gemacht ist. Und, und, und.

Man will uns weismachen, dass Demenz eine Erkrankung des Alters sei. Eine solche Sichtweise geht jedoch, wie wir gesehen haben, völlig an den Tatsachen vorbei. Es ist vielmehr das letzte Stadium eines schleichenden Prozesses, der schon in sehr frühen Jahren seinen Anfang nimmt, wenn sich die Bedingungen, die der Krankheit Demenz Vorschub leisten, eingestellt haben. Diese Bedingungen und Verhältnisse gilt es, frühzeitig zu verändern, wollen wir sicher gehen, nicht dement zu werden. Das, was wir als "Gedächtnisverlust" bezeichnen, habe sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren immer mehr ausgeprägt. Wenn er nicht rechtzeitig entdeckt werde, müsse er die Zweckmäßigkeit unserer geistig-körperlichen Prozesse untergraben, wie es jede andere Geisteskrankheit auch tue. Bereits 1921 hat F. M. Alexander dies in Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen geschrieben. Wer wollte bestreiten, dass dies heute in einer Zeit, in der nach und nach die Digitalisierung dem Menschen das Denken in sehr vielen Bereichen abnimmt, mehr denn je Gültigkeit hat?

Die Methode der Alexandertechnik und ihre Verfahren machen es möglich, unsere schädlichen Gewohnheiten aufzugeben. Dies wird allerdings keineswegs auf direktem Wege zu erreichen sein, indem man sich eine Gewohnheit nach der anderen vornimmt, in der Hoffnung das entsprechende Handlungsmuster durch bloße Willenskraft abstellen zu können. Es ist vielmehr eine indirekte Vorgehensweise notwendig: Zunächst ist die Basis dadurch zu schaffen, dass die Primärkontrolle über das natürliche Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken hergestellt wird, damit sich mit der aufgegebenen Gewohnheit nicht neue Verhaltensmuster herausbilden, die ggf. noch schädlicher sein können. Dies herausgefunden zu haben, ist in der Tat die große Leistung F. M. Alexanders zum Wohle des einzelnen Menschen und zum Wohle der Menschheit insgesamt.

Es geht wahrlich nicht darum, die Errungenschaften unserer Zivilisation zu verteufeln. Aber die Menschen müssen sich fit machen, damit sie sich so an die Errungenschaften anpassen können, dass sie keinen Schaden daran nehmen. Instinkt und Intuition, die unser Handeln so lange schon gesteuert haben, versagen bei dieser Aufgabe in einer so schnelllebigen Gesellschaft wie der unseren aufs Gründlichste. Allein einen bewusste Steuerung und Kontrolle verspricht, den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft wirklich gerecht zu werden.

Bis bald

Dein Großvater

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