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Im Brennglas der Alexandertechnik: Tanzen als Therapie


Liebe Marie,

Tanzen sei die beste Medizin. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Tanzen nicht nur glücklich mache, sondern auch intelligent und gesund. Es tue in vielfacher Hinsicht gut: Bei Parkinson-Patienten schwäche sich das für die Krankheit so typische Zittern ab und habe auch einen positiven Einfluss auf so automatisierte Bewegungen, wie es das Treppensteigen sei. Für das Kranheitsbild Demenz habe man herausgefunden, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Demenz zu erkranken, durch Tanzen um ca. 75 % gesenkt werden könne: Es halte geistig rege, wenn immer wieder neue komplexe Schrittfolgen zu erlernen seien.

Tanzen gleiche einem Gesamtpaket, wird in dem Artikel meiner Tageszeitung vom 29. April 2019 der Musikwissenschaftler Gunter Kreutz zitiert. Bei den Tanzbewegungen würden andere Muskeln als im normalen Alltag gefordert und auch die Abläufe seien beim Tanzen andere: Man bewege sich vor-, seit- und rückwärts, drehe sich um die eigene Achse, die Balance sei zu halten und die Arm- und die Beinbewegungen seien zu koordinieren. Tanzen habe zudem positive Rückwirkungen auf die Psyche, weil es die Stimmung hebe und fröhlich und zufrieden, ja sogar glücklich mache. Stresshormone würden abgebaut. Mit dem Tanzen würden in der Tat pharmakologische Effekte erzielt.

Nun ist es kein so neues Modell, das Tanzen als Medizin, als Therapie oder in der Pädagogik einzusetzen. Schon in seinem 1918 veröffentlichen Buch "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert" (BooksonDemand, 2018), der Erstübersetzung ins Deutsche von F. M. Alexanders MAN'S SUPREME INHERITANCE, sezt sich F. M. Alexander mit den "Schulen des Freien Ausdrucks" auseinander, in denen das Tanzen und andere kreative Aktivitäten eine wesentliche Rolle bei der Erziehung der Kinder spielen sollten. Dort beschreibt er den Fall einer jungen Schülerin, die für sich als kreative Aktivität das Tanzen auserwählt hatte.

"Diesen beispielhaften Fall konnte ich hautnah verfolgen: Ein kleines sechsjähriges Mädchen wurde zu mir gebracht. Ich sollte ihre Kinästhesie untersuchen. Das Mädchen war wirklich in einer ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Als sie in die Schule kam, entwickelte sie dort Interesse am Tanzen. Leider hatte sich diese Schule den "Freien Ausdruck" an ihre Fahnen geheftet und so wurden die Kinder beim Tanzen dazu angehalten, ohne Anleitung ihre eigenen Bewegungen zu kreieren.(...) Das Mädchen hatte wirklich großes Vergnügen an diesem Teil des Unterrichts und sie investierte viel Zeit dafür. (......)

Die Mutter des Mädchens war aber mit der allgemeinen Verfassung ihrer Tochter mit der Zeit immer unzufriedener geworden. Es hatten sich seltsame und irgendwie alarmierende Entstellungen des Körpers herausgebildet. Am auffälligsten war, dass das Mädchen dazu neigte, seinen Kopf auf einer Seite zu tragen und es nicht in der Lage war, dies zu berichtigen. Schließlich brachte die Mutter das Kind wieder zu mir, um es erneut untersuchen zu lassen. Es war noch nicht einmal ein Jahr her, dass ich dieses Kind als ein ungewöhnlich gutes Beispiel für richtige Körperkoordination beurteilt hatte. Als es jetzt wieder zu mir kam, war es in einem Zustand, der nur wenig besser war als der eines von Geburt an Behinderten. Die flüssige Muskelkoordination der Mechanismen war verschwunden. Ich fand stattdessen starre Sehnen und verhärtete Muskeln vor. Das schlimmste allerdings waren falsche Steuerungs- und Kontrollgewohnheiten. Eine davon war die üble Gewohnheit, die Muskeln des Rumpfes und der Beine einzusetzen, indem es die an sich unbeteiligten Muskeln des Halses anspannte. Eine weitere auffällige Schädigung war eine Versteifung und Verkürzung der Muskeln der Oberschenkel dort, wo sie am Rumpf befestigt sind. Diese Schädigung hatte dazu geführt, dass sich die Gestalt des Kindes allmählich verzogen und verbogen hatte."

Wie hatte es dazu kommen können? In seinem Buch "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen" (BoD, 2018), der deutschen Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL gibt F. M. Alexander eine plausible Erklärung: "In den letzten 200 Jahren ist das Niveau der sinnlichen Wahrnehmung bei der Mehrzahl der Menschen soweit abgesunken, dass sie allgemein schlechter koordiniert sind und sich ernsthafte Defekte entwickelt haben." Sie seien von einer Steuerung und Kontrolle abhängig, die weitgehend auf unterbewussten Erfahrungen beruhen. Weil aber "diese unterbewussten Erfahrungen nur noch in den seltensten Fällen von einem natürlichen Kind der heutigen Zeit auf unterbewusste Weise befolgt werden können", ist es notwendig, dass das Bewusstsein die Steuerung und Kontrolle übernimmt, wenn die sinnliche Wahrnehmung wieder zu einer zuverlässigen Größe werden soll. Mit einer sinnlichen Wahrnehmung, auf die man sich zunehmend besser verlassen kann, können die verschiedenen Teile des Organismus dann mit der Alexandertechnik wieder so zu koordiniert werden, dass die vorhandenen Defekte nach und nach verschwinden und neue gar nicht erst auftreten.

F. M. Alexander hatte sich vorgestellt, seine Technik schon in sehr frühen Jahren bei den Kindern einzusetzen, um Defekte gar nicht entstehen oder sich verfestigen zu lassen. Die Arbeit mit Erwachsenen erwies sich nämlich als ungleich schwieriger als die mit den jungen Menschen, weil sich bei Menschen, die nicht von ihrem Bewusstsein gesteuert und kontrolliert werden, im Laufe des Lebens nach und nach starre Gewohnheiten, Vorurteile und falsche Vorstellungen ausbilden. Diese aufzubrechen, erfordert vom Lehrer erhebliches Geschick und viel Erfahrung, um bei einem Schüler im reiferen Alter die Bereitschaft zu wecken, sich für Neues zu öffnen. Ist ein Mensch dazu aber erst einmal bereit, kann jeder von der Alexandertechnik profitieren - ganz gleich in welchem Alter.

In Florian Henckel von Donnermarcks Film "Werk ohne Autor" kommt es zwischen Vater, einem Wendehals par excellance, der im Nationalsozialismus Hitlers genauso Karriere gemacht hat, wie in der DDR und später, nach seiner geduldeten "Flucht", auch in der Bundesrepublik, und seinem Sohn zu folgendem Dialog:

Sohn: "Du rauchst?"

Vater: "Ich bin jetzt 63. Die Folgen des Rauchens werden mich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr einholen."

Ich würde es wirklich sehr begrüßen, wenn die Menschen, die sich an all dem erfreuen, was das Tanzen zu bieten hat, nicht mehr von den negativen Folgen ihrer Tanzbemühungen eingeholt werden, die sie wohl mit demselben fehlerhaften Gebrauch ausführen müssen, der sie schon an Demenz oder am Parkinsonsyndrom erkranken ließ. Sollen sie das Tanzen ohne Schmerzen genießen - bis zum allerletzten Tanz!

Bis bald

Dein Großvater

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