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Im Brennglas der Alexandertechnik: Über Bulimie, Binge-Eating und Grazing


Liebe Marie,

das englische Wort "to binge", von dem die Binge-Essstörung ihren Namen hat, bedeutet, "etwas gierig verschlingen". Wenn jemand unter einer solchen Störung leidet, stopfe er oder sie wahllos alles Mögliche in sich hinein, heißt es in einem Artikel in der Westfälischen Rundschau vom 15. April 2019. Mehrmals, aber mindestens einmal in der Woche komme es über Monate hinweg zu solchen "Fressanfällen", wie sie am Beispiel von C. beschrieben werden: Wenn sie sich abends alleine zu Hause langweile, überfalle sie die Lust aufs Essen: Sie habe gerade noch eine Pizza in den Backofen geschoben, schon vergreife sie sich am Pudding, von dem es im Kühlschrank einen reichlichen Vorrat gibt; hinterher knabbere sie eine Tüte Chips und vor dem Zubettgehen gebe es noch Schokolade satt. Sie bringe inzwischen 100 Kilo auf die Waage.

Bei Bulimie, einer anderen Form der Essstörung, kommt hinzu, dass die oder der Betroffene "versucht nach übermäßigem Essen gegenzusteurern, indem er zum Beispiel sich erbreche oder Abführmittel nehme". Und beim "Grazing" prägt sich die Essstörung so aus, dass den ganzen Tag über Nahrung zu sich genommen werde, dass die Mahlzeitenstruktur also nahezu vollständig aufgehoben sei, so wie eine Kuh beständig grast, wenn sie auf der Weide ist.

Dass Binge-Eating, Bulimie und Grazing nur die Spitze des Eisbergs sind, kann jeder sehen, der durch die Straßen unserer Städte geht: Der Anteil der fettleibigen Menschen hat in unserer Gesellschaft ein enormes Ausmaß erreicht. Inzwischen sind die Fettleibigigen nahezu in der Überzahl. Bei einem Eisberg ist nur seine Sptze sichtbar und sein weitaus größter Teil schwimmt unter der Wasserlinie. Bei der allgemeinen Fettleibigkeit ist es jedoch so, dass sie an der Oberfläche zu sehen ist und die Extreme Binge-Eating, Bulimie und Grazing, wie auch die Magersucht eher im Geheimen blühen.

"Wenn jemand jegliche Kontrolle bei der Nahrungsaufnahme verliert, sprechen wir von einer .. Essstörung", wird in dem Zeitungsartikel Prof. S. Herpertz, Direktor für Psychosomatische Medizin an den Universitätskliniken Bochum, zitiert. Mit dieser Analyse zeigt er einen Weg auf, um mit den Problemen beim Essverhalten fertig zu werden: Der oder die Betroffene muss die Kontrolle über das eigene Verhalten wiedererlangen. Nur sind alle direkten Versuche, eine solche Kontrolle über das Essverhalten zu erlangen, von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil bei einem solchen zielorientierten Vorgehen die Mittel-und-Wege weitgehend unberücksichtigt bleiben. Allein ein indirektes Vorgehen vespricht Erfolg: Zuerst ist "der richtige Einsatz der Primärkontrolle wiederherzustellen, so dass sich der Selbstgebrauch" verbessere und allmählich die sinnliche Wahrnehmung wieder zuverlässig werde. In Verbindung damit, dass die Reaktion auf einen Stimulus zu handeln gehemmt werde, führe der Einsatz der Primärkontrolle dann indirekt dazu, dass die vorhandenen Defekte allmählich verschwinden. Dies schreibt F. M . Alexander in seinem letzten Buch THE UNIVERSAL CONSTANT OF LIVING, das im Aug./Sept. 2019 bei BooksonDemand unter dem deutschen Titel: Die Konstante im Fluss Lebens erscheinen wird.

Nicht Hunger, sondern Langeweile habe C. dazu getrieben, der Lust aufs Essen nachzugeben. Was F. M. Alexander in: Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert (BoD, 2018), der Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE ins Deutsche, geschrieben hat, kann sehr gut erklären, warum die Langeweile sich trotz des riesigen Unterhaltungsangebots zu einem so großen Problem in unserer Gesellschaft entwickelt hat, dass zurzeit in Deutschland diskutiert wird, ein Ministerium zur Bekämpfung der Langeweile zu schaffen. Im Kapitel "Kultur des Menschen und die Ausbildung unserer Kinder" schreibt er:"Man erlaubt noch nicht einmal, dass die Kinder ihre eigenen Spiele erfinden. Immer neue Spielzeuge, so teuer wie überflüssig, werden bereitgestellt. Sie sind so ausgeklügelt, dass es keiner Phantasie mehr bedarf, sie in die reduzierten Modelle von Motoren, Zügen, Schiffen, Tieren, in was auch immer zu verwandeln: Sie sind es ja als Produkt schon. (.....) Noch in meiner Jugend hüpfte jeder alte Ziegelstein in die Rolle einer Lokomotive oder in die eines Pferdes. Der Denkprozess, der erforderlich war, um eine neue Realität hinter einer unmissverständlichen Gestalt zu sehen, schulte dann die Phantasie. So wuchsen die Kinder meiner Zeit und auch ich auf und waren zwar unzufrieden mit den armseligen Ersatzstücken, aber unsere angeregte Phantasie fand ihren Ausdruck darin, dass wir mit zunehmender Erfahrung die Realitäten immer besser nachbildeten, indem wir Neues erfanden und die Dinge verbesserten. Und wir wuchsen mit Einübung auf und brachten uns selber bei, wie man spielen musste und wie unser Spiel in den großen Bereich des sozialen Umgangs miteinander zu integrieren war."

Einem Menschen, dessen Phantasie angeregt ist, wird wohl kaum langweilig werden. Und mit der Langeweile ist es auch deshalb vorbei, weil mit dem richtigen Einsatz der Primärkontrolle die Wahrnehmungssysteme nach und nach wieder voll funktionstüchtig werden. Dann erhält das Gehirn über die Augen, die Nase, die Ohren oder die Haut so viel "Futter", dass es beständig damit beschäftigt ist, die über die Sinnesorgane aufgenommenen Informationen zu ordnen, einzuordnen, mit anderen Informationen zu verknüpfen, zu interpretieren, zu analysieren, dass für Langeweile wahrlich kein Platz mehr ist.

Was die Einsamkeit in unserer Gesellschaft angeht, - C. hatte ja davon gesprochen, dass sie die Lust aufs Essen überfalle, wenn sie sich abends alleine zu Hause langweile - kann ich nichts Besseres tun, als aus der Schlussansprache aus Charly Chaplins "Der große Diktator" einige Sätze zu zitieren: "Das Flugzeug und das Radio haben uns einander nähergebracht. Das innerste Wesen dieser Dinge ruft nach den guten Eigenschaften im Menschen, ruft nach Brüderlichkeit, fordert uns auf, uns zu vereinigen...... Wir haben die Möglichkeit entwickelt, uns mit hoher Geschwindigkeit fortzubewegen, doch wir haben uns selbst eingesperrt. Die Maschinen, die uns im Überfluss geben sollten, haben uns in Not gebracht. Unser Wissen hat uns zynisch, die Schärfe unseres Verstandes hat uns kalt und lieblos gemacht."

Der Film "Der große Diktator" ist 1940 erschienen. Die Welt hat sich in der Zwischenzeit enorm verändert. Aber ist die Annahme berechtigt, liebe Marie, dass mit all den neuen Medien, die heute unsere Lebensabläufe weitgehend bestimmen, die Dinge, was die Einsamkeit betrifft, einen Deut besser geworden sind?

Bis bald

Dein Großvater

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