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Im Brennglas der Alexandertechnik: Kieferorthopädische Behandlungen


Liebe Marie,

seit Jahren nehme die Zahl der kieferorthopädischen Behandlungen stetig zu. Inzwischen trage jeder zweite Jugendliche eine Zahnspange. Medizinisch induziert sei eine Klammer nur dann, wenn durch sie die Gefahr von Karies, Paradontitis oder Zahnausfall eingedämmt werde, oder wenn durch Fehlstellungen des Kiefers oder der Zähne das Kauen und das Beißen beeinträchtigt würden, schreiben die Redakteure A. Böhme und S. Weltmann diese Woche in meiner Tageszeitung.

Wie schon so oft geht die Diskussion in dem Artikel dann in eine Richtung, die so typisch für unsere Gesellschaft ist, in der ökonomische Fragen Vorrang haben. Was kostet all das und wie können die Kosten gesenkt werden? Nicht in den Analysehorizont kommen Fragen wie diese: Warum hat inzwischen jeder zweite Jugendliche Bedarf für eine Zahnspange? Warum haben sich Zähne und Kiefer so dramatisch verschoben, dass die Zahnklammer mittlerweile zum ganz normalen Outfit gehört? Wie kann der Prozess der zunehmenden Verschlechterung in diesem Bereich aufgehalten oder rückgängig gemacht werden? Wie kann es verhindert werden, dass eine Zahnspange nötig ist?

Es ist wohl ein Zeichen von Angst, wenn der Unterkiefer zurückgezogen wird. Nun ist Angst etwas, das zum Leben seit Urzeiten dazugehört. Neu ist das Ausmaß der Angst in unserer schnelllebigen Zeit. Gerade ein junger Mensch, der noch auf der Suche ist, ist anfällig für sie, weil er sich heute nie sicher sein kann, ob er den beständig wechselnden Trends seiner Generation genügt. In Zeiten von Facebook, Instagram, WhatsApp, Twitter und Co. hat das Wechselspiel der Trends noch einmal an Tempo zugelegt. Und in den sogenannten Sozialen Medien werden nicht nur Trends gemacht. In ihnen - man sollte sie wohl deshalb eher "Asoziale Medien" nennen - wird ganz schnell auch Häme über all jene ausgeschüttet, die sich den Trends widersetzen.

So ist die Angst heute ein beständiger Begleiter sehr vieler Menschen. Zudem verschwinden die Räume mehr und mehr, in denen die Kinder Geborgenheit finden; die Geborgenheit, die sie nicht allein lässt mit ihrer Angst. Zu Urzeiten zogen die Menschen in Horden umher. Die Zivilisation hat es mit sich gebracht, dass sich daraus immer noch kleinere Einheiten gebildet haben, die Dorfgemeinschaft, die Großfamlie, die Familie, die Kleinfamilie mit nur einem Kind bis hin zum alleinerzeihenden Haushalt, der in der heutigen Zeit schon nichts Außergewöhnliches mehr ist. Kindertagesstätten vom zweiten Lebensjahr an, Vor- und Ganztagsschulen werden heute als gesellschaftliche Errungenschaft gefeiert. Die Kinder sind dort sicherlich gut aufgehoben und werden auch bestens versorgt, aber eines können diese Strukturen wahrlich nicht leisten: Geborgenheit geben. Hinzu kommt noch, dass sich die Zeit, in der sich die Kinder in dem Raum aufhalten, in dem sie Geborgenheit erfahren, inzwischen auf nur sehr wenige Stunden des Tages beschränkt, weil beide Elternteile im Normalfall arbeiten, um sich ihre Konsumwünsche erfüllen zu können.

Nun sind "übermäßige Angstreflexe - wie auch ungezügelte Emotionen, Vorurteile und feste Gewohnheiten - Faktoren, die die Entfaltung des Menschen verzögern, (.......) denn sie sind auf der Ebene des Unterbewusstseins an all die geistig-körperlichen Prozesse gekoppelt, die bei Wachstum und Entwicklung Verwendung finden", dies schreibt F. M .Alexander in: Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (Books on Demand, 2018), der deutschen Übersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL. Übermäßige Angstrelexe hätten sich dadurch ausbilden können, dass sich die Fähigkeit zur Hemmung nur mangelhaft entwickelt habe, weil der Mensch es sich zu einer Gewohnheit gemacht hat, sein jeweiliges Ziel direkt anzustreben.

Bei der Vermittlung der Alexandertechnik arbeitet der Lehrer auf der Bewusstseinsebene und kann so die verzögernden Faktoren bei der Enfaltung des Menschen umgehen, die auf der Ebene des Unterbewusstseins angesiedelt sind. Und er lässt den Schüler nicht zielorientiert vorgehen, sondern "erklärt ihm, dass er sich nicht um das kümmern dürfe, was die jeweilige Zielsetzung ist. Er solle sich stattdessen nach und nach die neuen Steuerungsbefehle oder neuen Anweisungen einprägen. Diese Steuerungsbefehle sind nämlich die Vorbereiter der Mittel-und-Wege, mit denen das jeweilige 'Ziel' eines Tages erreicht werden wird. Nicht heute oder morgen und auch nicht übermorgen, aber der Tag wird kommen! (.......) In diesem Prozess ist kein Platz für solch verzögernde Faktoren, wie es übermäßig erregte Angstreflexe, unkontrollierte Emotionen und starre Vorurteile sind. Ein auf diese Weise strukturierter Prozess, der von einem Schüler tatsächlich solange keine eigenständige Handlung verlangt, bis sein Lehrer den Weg dafür bereitet hat, wird sicherstellen, dass die Erfahrungen des Schülers, mit nur wenigen Ausnahmen, zufriedenstellend sein werden. Auf diesem Weg werden zudem das Koordinationsniveau und das Niveau der sinnlichen Wahrnehmung angehoben."

Ein Schüler lernt die Alexandertechnik zunächst, während sein Lehrer ihn durch Handlungen führt, die im täglichen Leben hundert und mehr Male vorkommen, z. B. beim Sich-Hinsetzen und Sich-Hinstellen. So kommt zunächst bei diesen eher einfachen Tätigkeiten die Angst nicht länger zum Zuge. Später, wenn der Schüler in seinem Lernprozess fortgeschritten ist, lernt er nach und nach, die Technik bei allen seinen Handlungen zu verwenden. Und dies bedeutet, dass von da an das Gespenst der Angst seinen Einfluss fast nahezu vollständig verloren hat.

Es bleibt aber immer noch das Problem, dass das Zurückziehen des Unterkiefers sich inzwischen zu einer Gewohnheit entwickelt haben könnte. Zur Vermittlung seiner Technik hat F. M. Alexander verschiedene Verfahren experimentell erprobt und für gut befunden. Eines dieser Verfahren, das "Geflüsterte Ah", ist - in Verbindung mit den Verfahren Hemmung und Primärkontrolle - bestens geeignet, dieses Problem zu lösen. Die Anweisungen oder präventiven Selbstbefehle zu diesem Verfahren "Geflüstertes Ah" könnten etwa wie folgt lauten:

Auf den Lippen ein Lächeln!

Die Zunge hinter der unteren Zahnreihe !

Unterkiefer nach vorne!

Flüstere im Geiste ein "Ah"!

(Vorher hast Du deine schädliche Gewohnheit gehemmt, indem Du Dir die Anweisung gegeben hast, nicht die Kinnlade zurückzuziehen. Und Du hast Dir die Befehle zur primären Kontrolle von Kopf, Hals und Rücken erteilt.)

Dieses Verfahren hat gegenüber der Zahnklammer den großen Vorteil, dass es nicht zu negativen Begleiterscheinungen kommt, von denen Schmerzen noch das geringste Übel sind. Wenn mit der Zahnspange der Unterkiefer nach vorne gezwungen wird und der Patient die ganze Zeit dagegen arbeitet, weil er weiterhin die Gewohnheit hat, die Kinnlade zurückzuziehen, kann man sich sehr gut vorstellen, dass diese enorme Energievergeudung zu seiner raschen Ermüdung beiträgt und ihm für die Aufgaben des täglichen Lebens am Ende die Kraft fehlt.

Bis bald

Dein Großvater

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