top of page
Empfohlene Einträge

Im Brennglas der Alexandertechnik: Aggression


Alexandertechnik

Liebe Marie,

Täter sind dieser Tage in eine Hagener Grundschule eingebrochen, haben "eine Schneise der Verwüstung" hinterlassen und einen Schaden von 30000 Euro verursacht. Sie seien mit einem hohen Gewaltpotenzial vorgegangen. Ein Betrunkener randaliert im Krankenhaus, weil sein alkoholisierter Freund nicht sofort behandelt wird. "Ich hau hier alles kurz und klein!", sei ein Satz, den die Mitarbeiter in der Marler Kinder- und Jugendpsychiatrie allzu oft hören müssen. Einer der Jugendlichen, die in dieser Einrichtung versorgt worden sind, beschreibt, wie es dazu gekommen ist, dass er voll angestauter Wut mit der Bierflasche zugeschlagen hat: Es habe "Stress" gegeben, nachdem er angerempelt worden sei. Da sei er ausgerastet. Ein 15-jähriger tötet aus Heimtücke, niederen Beweggründen und Mordlust eine in der Klasse beliebte MItschülerin, so die Anklage.

Vier Beispiele für aggresssives Verhalten und tagtäglich kommen neue dazu. Wie wird Aggression definiert? Wie äußert sie sich? Woher kommt sie? Ist sie ein Urinstinkt? Warum ist Aggression ein so schwerwiegendes Problem in unserer vorgeblich doch so zivilisierten Gesellschaft?

Ursprünglich und im weitesten Sinne meint das "Aggreddi" nichts weiter als das Anpacken einer Aufgabe oder eines Problems. So definiert der Verhaltensforscher Konrad Lorenz Aggression in seinem Werk "Das sogenannte Böse". Der Aggressionstrieb sei ein echter primär arterhaltender Instinkt. Aggression war also in der Entwicklung der Menschheit eine Verhaltensweise, die für ein Überleben unabdingbar war: Mit ihr wurden der Lebensraum verteidigt und ggf. auch neuer Lebensraum erobert, die Einhaltung der Rangordnung gewährleistet, die Nachkommen geschützt oder die knappen Resourcen verteidigt. Es hat sich dann jedoch gezeigt, "dass das verderbliche Maß an Aggressionstrieb, das uns Menschen heute noch als böses Erbe in den Knochen sitzt, durch einen Vorgang der intraspezifischen Selektion verursacht wurde, der durch mehrere Jahrzehntausende, nämlich durch die ganze Frühsteinzeit, auf unsere Ahnen eingewirkt hat. Als die Menschen eben gerade soweit waren, dass sie kraft ihrer Bewaffnung, Bekleidung und ihrer sozialen Ordnung die von außen drohenden Gefahren des Verhungerns, des Erfrierens und des Gefressenwerdens von Großraubtieren einigermaßen gebannt hatten, muss eine böse intraspezifische Selektion eingesetzt haben. Der nunmehr Auslese treibende Faktor war der Krieg, den die feindlichen benachbarten Menschenhorden gegeneinander führten. Er muss eine extreme Heranzüchtung aller sogenannten 'kriegerischen Tugenden' bewirkt haben."

Und weiter schreibt Konrad Lorenz, dass ein Mensch, der ohne Aggression ist, von seinen Instinkten abgeschnitten sei und ein Mensch, der sich von der Reflexhaftigkeit der Aggression hinreißen lasse, eine Gefahr für den anderen und für die Menschheit insgesamt darstelle.

Wie ist diese Gefahr nun aber zu bannen, ohne die positive Quelle der Aggression versiegen zu lassen? Konrad Lorenz belegt zunächst, welche Wege nicht zum Ziel führen: "Zwei naheliegende Versuche, die Aggression zu steuern, sind nach allem, was wir über Instinkte im Allgemeinen und die Aggression im Besonderen wissen, völlig hoffnungslos." Es bestehe keinerlei Hoffnung, wenn man "die auslösenden Reizsituationen vom Menschen fernhält", wie es auch hoffnunglos sei, ein "moralisch motiviertes Verhalten" einzufordern. Aber Lorenz nennt auch drei Möglichkeiten, mit denen Aggression beherrscht werden kann. Erstens: Der Mensch sucht für seine Aggressionen eine sozial akzeptierte Möglichkeit, sie abzureagieren. Er haut mit der Faust nicht ins Gesicht seines Gegenübers, sondern auf den Tisch. Lorenz nennt dies Neu-Orientierung. Zweitens: Aggression wird z. B. bei Sport und Spiel sublimiert. Internationale Wettkämpfe haben hier eine wichtige Aufgabe. Und drittens können die Menschen zu Begeisterung angeregt werden, die eine Form der Aggression ist, wenn diese Begeisterung nicht demagogisch missbraucht wird. Das Phänomen "Fussballfan" ist ein Beispiel dafür, wie Begeisterung meistens in den richtigen Bahnen verläuft, aber auch ein Beispiel dafür, wie sie extrem ausarten kann.

Jeder, der einigermaßen fähig ist, sich selbst zu beobachten, sei im Stande, "willkürlich seine aufquellende Aggression auf ein geeignetes Objekt umzuorientieren", schreibt Konrad Lorenz an einer Stelle. Spätestens hier kommt die Alexandertechnik ins Spiel, denn ist es ja die Krux der gegenwärtigen Zivilisationsbedingungen, dass eine Selbstbeobachtung, in der sich die Realität tatsächlich widerspiegelt, aufgrund der fehlerhaften sinnlichen Wahrnehmung kaum möglich ist. Wenn eine verlässliche sinnliche Wahrnehmung wiederhergestellt ist, ist schon einmal ein Hindernis für eine Umorientierung der Aggresion aus dem Weg geräumt. Ein anderes Hindernis stellt die Gewohnheit dar. Jemand, der bisher gewohnheitsmäßig mit Aggression auf seine Probleme reagiert hat, wird wahrlich kaum in der Lage sein, aus Einsicht anders als mit Gewalt zu reagieren. Ein solcher Mensch muss zunächst lernen, diese alte Gewohnheit zu hemmen, wenn er sich anders verhalten will.

Wenn der Alexanderlehrer mit seinen Händen einen Schüler durch eine Bewegung führt, wenn er z. B. für ihn einen Arm anhebt und in Richtung des vor ihm stehenden Stuhles lenkt, hat der Schüler zum einen Gelegenheit, seinen starken Impuls zu hemmen, die Bewegung selbst aktiv ausführen zu wollen. Und zum anderen kann er, wenn ihm die Hemmung des Impulses gelingt, die richtigen sinnlichen Erfahrungen mit dieser Bewegung machen, und so nach und nach seine sinnliche Wahrnehmung auf eine verlässliche Basis stellen.

Der junge Mann, der nicht mit der Faust auf den Tisch gehauen, sondern mit der Bierflasche zugeschlagen hat, berichtet vom "Schauplatz Schule" dieses: "Dass man auf dem Schulhof handgreiflich geworden ist, war an der Tagesordnung. Entweder du mobbst oder du wirst gemobbt." Er besuchte das Gymnasium. An der Hauptschule, sagen Freunde, sei es schlimmer gewesen. Unter diesem Gesichtspunkt macht die Forderung F. M. Alexanders, die er in seinem letzten Buch "Die Konstante im Fluss des Lebens", der Neuübersetzung ins Deutsche von THE UNIVERSAL CONSTANT IN LIVING (BooksonDemand, Herbst 2019) vertritt, wirklich Sinn, den jungen Menschen schon in der Schule zu vermitteln, was richtiger Gebrauch ist. Wenn sie gelernt haben, sich richtig zu gebrauchen, werden sie das objektiv beobachtbare Verhalten an den Tag legen, dass sich auch zeigt, wenn jemand begeistert ist: "Der Kopf ist angehoben, der Tonus der gesamten quergestreiften Muskulatur erhöht sich, die Körperhaltung strafft sich, die Ellenbogen rotieren nach außen" und anderes mehr. Ein Mensch mit einem solchen Gebrauch wird zum einen seine Aggressionen im Griff haben, in dem Sinne, dass er sie neu orientiert, sublimiert oder dass er Begeisterung für etwas entwickelt, und zum anderen sendet er Signale aus, die ihn nicht zum Opfer von Aggression werden lassen.

Es gibt noch weitere Möglichkeiten, wie Aggression beherrscht werden kann, die aber auch Konrad Lorenz für völlig abwegig gehalten hat: Man könnte sie "wegzüchten", wie es zu seinen Zeiten genannt wurde, bzw. über die Gene manipulativ entfernen, wie wir es heute ausdrücken würden. Oder man könnte sie durch Konditionierung außer Gefecht setzen. Die fatalen Folgen eines solchen Vorgehens kannst Du Dir, liebe Marie, in dem Film Clockwork Orange von Stanley Kubrick ansehen: Alex, der rabiate Anführer der Teddy-Boys, für die Gewaltexzesse in jeglicher Form das pure Vergnügen sind, wird einer Gehirnwäsche unterzogen, nach der ihm schon übel wird, wenn er auch nur an Gewalt denkt. So wird er zum tragischen Spielball seiner weiterhin rohen Umwelt.

Bis bald

Dein Großvater

Aktuelle Einträge
Archiv
Schlagwörter
Folgen Sie uns!
  • Facebook Basic Square
  • Twitter Basic Square
  • Google+ Basic Square
bottom of page