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Im Brennglas der Alexandertechnik: Fitnesstraining


Liebe Marie,

wer viel Zeit am Schreibtisch verbringe, solle sich um einen sportlichen Ausgleich bemühen, so lautet der Untertitel zu einem Artikel in meiner Tageszeitung. Wer im Sitzen arbeite, habe ein erhöhtes Risiko für Herzerkrankungen, Arthrose, Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfall, Haltungsschäden und Muskelschwund. Dass sportliche Betätigung eine positive Wirkung auf die Gesundheit und das Wohlbefinden habe, sei eigentlich unbestritten. In einer Studie konnte jedoch auch nachgewiesen werden, dass noch mehr Training nicht zwingend mehr Gesundheit bedeutet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt 150 Minuten ruhigere Aktivitäten wie Walking pro Woche oder 75 Minuten intensivere Gangarten wie Jogging. Zudem werden Kraftübungen an zwei Tagen der Woche empfohlen.

In der Tat ist Fitnesstraining inzwischen zur Sportart Nummer eins geworden. Zehn Millionen Deutsche seien MItglied in einem Fitnessstudio. Aber es gebe Auswüchse, die die Gesundheit gefährden. Zu diesen Auswüchsen gehörten übertriebenes Krafttraining mit erheblichen negativen Auswirkungen wie Muskeldysmorphie oder Muskelsucht, sozusagen dem Gegenpol zur Magersucht. Bei vielen Männern bestehe der Wunsch nach einem möglichst "ausdefinierten" Körper. Diesem Ziel ordnen sie alles unter, auf die Gefahr hin, dass Leber- oder NIerenprobleme sich einstellen, wenn sie ihre "Supplements" (Nahrungsergänzungsmittel) zu sich nehmen, deren Listen der Inhaltsstoffe lang und ohne Chemiestudium kaum zu verstehen seien.

Neuester Trend sei das EMS-Training. Elekronische Muskelstimulation ist ein Fitnesstrainig, bei dem Reizstrom eingesetzt wird. Mit EMS soll der Teil der arbeitenden Bevölkerung angesprochen werden, der nur wenig Zeit für seine angestrebte Fitness aufwenden kann oder will. Jedoch seien die Wirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem nur gering. Die Muskulatur könne in Mitleidenschaft gezogen werden. Im Extremfall könnten Teile der Skelettmuskulatur zerfallen (Rhabdomyolyse) und das natürliche Zusammenspiel der Muskeln in der Bewegung könne gestört werden, weil bei EMS-Training Muskeln ggf. anders zusammengeschaltet werden.

Aus Sicht der Alexandertechnik ist Fitnesstraining höchst fragwürdig. F. M. Alexander schreibt dazu in THE UNIVERSAL CONSTANT OF LIVING (Eine Neuübersetzung dieses Buches wird 2019 bei BooksonDemand unter dem Titel Die Konstante im Fluss des Lebens erscheinen.) "Dies konnte eindeutig nachgewiesen werden: Ein Mensch, der Fitnessübungen zur Verbesserung seines körperlichen Zustandes einsetzt, wird Spezialist darin, schädliche Nebeneffekte zu produzieren. Mit diesen schädlichen Nebeneffekten macht er nicht nur all das zunichte, was er an der einen Stelle vielleicht gewinnen könnte, er wird zudem auf lange Sicht seinen Zustand eher noch verschlechtern. Bei einer großen Anzahl der Fälle führt die Ausführung dieser Übungen zur Entwicklung schädlicher geistig-körperlicher Gewohnheiten und einem Absinken des allgemeinen Funktionsniveaus. In seinem fundamentalen inneren Aktivitätsbereich macht der Mensch auf diese Weise das unmöglich, was er eigentlich erreichen will. Und diese Gewohnheit ist so tief verwurzelt, dass sie zu einer Bedrohung für das Verhältnis zwischen dem Umgang mit seinem Körper und seiner Außenwelt wird.

Tausende und Abertausende von Menschen begeben sich in die Hände von Fitnesstrainern, um spezielle Übungen auszuführen, mit denen bestimmte Ziele erreicht werden sollen. Es ist wirklich nur im Interesse meiner Leser, dass ich diesen Seiten die Fotografie eines Mannes hinzugefügt habe, der nach Fitnesssplänen trainiert worden ist."

Der Unteroffizier auf dem Foto zeigt so viele Missgestaltungen, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann. Deshalb hier nur die, die am auffällgsten sind: Da sind der zurückgezogene Kopf, der extrem verspannte Hals, die zurückgezogenen Schultern und Arme, die ins Hohlkreuz gebogene Wirbelsäule, der versteifte Brustkorb, die verschobene Hüfte, die durchgedrückten Knie, und, und, und.

Heute sind die Methoden zur Modellierung des Körpers sehr viel ausgefeilter. So können solche "Monstrositäten", wie es ein Mediziner aus der Zeit F. M. Alexanders ausgedrückt hat, als er das Foto gesehen hatte, vermieden werden. Trotzdem greift auch das modere Fitnesstraining sehr wohl in die Ausgewogenheit der körperlichen Entwicklung ein. Weil das Dickenwachstum der Muskeln immer mit einer Verkürzung der Muskeln einhergeht, geht der übermäßige Muskelaufbau zu Lasten der individuellen Beweglichkeit, Gelenkigkeit, Geschmeidigkeit und Schnelligkeit. Die Gelenke werden von den Muskelbergen zusammengezogen. Die Bewegungen werden so "eckiger". Weil viel Muskulatur an der Außenseite des Brustkorbs aufgebaut wird, wird auch die Atmung beeinträchtigt: Der Brustkorb kann sich nicht mehr in einem angemessenen Maße weiten, was dazu führt, dass mit jedem Atemvorgang weniger Luft in die Lungen einströmt, so dass sich die Versorgung mit Sauerstoff schwieriger gestaltet. Das Herz muss mehr Pumparbeit leisten, um die Versorgung sicherzustellen. Auf Dauer wird so das gesamte Herz-Kreislauf-System belastet. Und immer, wenn der Hals angespannt ist, ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass die jeweilige Person auf schädliche Weise in seine Primärkontrolle eingreift.

Was das EMS-Training betrifft, gibt es aus dem Blickwinkel der Alexandertechnik, neben den oben bereits aufgeführten (allgemeine Muskelprobleme, Zerfall der Skelettmuskulatur, Störung des natürlichen Zusammenspiels der Muskeln), noch einen weiteren wesentlichen Kritikpunkt: Wenn die elekronische Muskelstimulation zum Einsatz kommt, bleibt das Bewusstsein ausgeschaltet! Die Bewegungen werden nicht nach den Prinzipien einer bewussten Steuerung und Kontrolle angeleitet, sondern Reizstrom sorgt für die jeweilige Kontraktion.

Dies hat F. M. Alexander aber ausführlich und überzeugend in Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Menschen (BooksonDemand, 2018), der deutsche Neuübersetzung von CONSTRUCTIVE CONSCIOUS CONTROL OF THE INDIVIDUAL dargelegt: unter den gegenwärtigen Zivilisationsbedingungen genügt eine instinktive Steuerung und Kontrolle nicht mehr den Anforderungen, die die Zivilisation an den einzelnen Menschen stellt. Die Veränderungen in unserer Gesellschaft laufen nämlich derzeit so schnell ab und sind so weitreichend, dass der geistig-körperliche Organismus in der kurzen Zeitspanne bis zur nächsten Weiterentwicklung nicht in der Lage ist, sich an die neuen Bedingungen schnell genug anzupassen. Dafür bedürfe es einer bewussten Steuerung und Kontrolle.

Wir müssen leider einsehen, dass Fitnesstraining an sich nicht dafür geeignet ist, den Menschen zu Gesundheit und allgemeinem Wohlbefinden zu führen. Was aber dann? Aldous Huxley, der Autor des bekannten Romans "Schöne neue Welt", hat in einem Essay beschrieben, was F. M. Alexander in langen und geduldigen Versuchen herausgefunden hat: "Das natürliche und richtige Verhältnis zwischen dem Kopf und der Wirbelsäule garantiert, dass alle Organe in ihrer angestammten Position verbleiben und in Harmonie zusammenarbeiten." Ist dieses Verhältnis richtig, wirkt es beständig zu unserem Guten, ist es gestört, wirkt es beständig zu unserem Schaden. So ist auch der Ansatz Hagenbuchs, "sich in einen Sessel setzen", aus meinem Blogeintrag vom 12. August 2018, keine wirkliche Lösung, denn die schlechten Verhältnisse arbeiten bei allen unseren Aktivitäten gegen uns, ob wir nun sitzen, liegen, gehen oder atmen, ob wir wachen oder schlafen, ob das Blut in unseren Adern fließt oder ob wir im Fitnessstudio Gewichte stemmen. Nein, es muss dafür gesorgt werden, dass sich die schlechten Verhältnisse wieder in gute umkehren.

Und genau das ist das Wesen und das Anliegen der Alexandertechnik. Ihr Leitmotiv ist nicht "höher, weiter, schneller", es sind vielmehr die richtigen Mittel-und-Wege für eine harmonische Entwicklung des gesamten geistig-körperlichen Organismus. Unter dieser Prämisse können wir dann aus der Fülle des Lebens schadlos die Aktivitäten auswählen, die uns Freude bereiten. So kann ich mich dann sogar im Fitnessstudio auspowern, ohne Schaden zu nehmen und ich werde ein Gurkenglas mit Verstand und nicht mit brachialer Gewalt öffnen wollen. Mein Verstand wird mir auch sagen, dass EMS-Training ein wahrer Irrsinn ist.

Bis bald

Dein Großvater

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