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Im Brennglas der Alexandertechnik: Bewegungsmangel


Liebe Marie,

auf die Frage, was denn die Menschheit tun solle, habe er, Hagenbuch, geantwortet, in einen Sessel setzen, in einen schönen alten Sessel mir hoher Rückenlehne und ausladenden Seitenarmen.......

und dort ganz ruhig sitzen bleiben,

dem einen einen guten Morgen wünschen,

dem anderen viel Glück,

dem dritten ein reichhaltiges Mahl anbieten

und den vierten vielleicht bitten, sich dazu zu setzen.

Diese Verse des Kabarettisten Hans-Dieter Hüsch sollen den DKV-Report 2018 einleiten, der es auf die Titelseite meiner Tageszeitung gebracht hat. Der Report der Deutschen Sporthochschule Köln im Aufrag der Deutschen Krankenversicherung macht u. a. Aussagen zum Sitzen. zur fehlenden Bewegung und zur Selbstwahrnehmung der Menschen in Deutschland in Bezug auf ihre eigene Gesundheit.

"Der sitzende Lebensstil gilt neben dem Bewegungsmangel als eigenständiger, gesundheitlicher Risikofaktor. Lange und ununterbrochene Sitzzeiten können die Entstehung von zahlreichen Zivilisationskrankheiten fördern", heißt es in diesem Report. Die Menschen unserer Gesellschaft verbringen im Durchschnitt acht Stunden am Tag sitzend. Wenn man die Schlafenszeit abzieht, sitzen sie also die Hälfte ihrer Zeit, bei der Arbeit oder auf dem Weg zur Arbeit, in der Schule oder auf dem Weg zur Schule, in der Freizeit oder auf dem Weg zu den Freizeitaktivitäten. Nicht nur, dass sie im Beruf stundenlang vor dem Computerbildschirm sitzen, in ihrer Freizeit setzen sie sich wieder freiwillig vor die "Flimmerkiste", im Durchschnitt zwei Stunden am Tag, und zusätzlich noch vor den Computer.

All diese Zahlen zum Sitzen gehen jedoch an dem eigentlichen Problem vorbei: Nicht wie lange jemand sitzt, ist von entscheidender Bedeutung, sondern wie er oder sie sich dabei gebraucht.

Wenn der Selbstgebrauch beim Sitzen nicht zu beanstanden ist, ist Sitzen eine Tätigkeit wie jede andere auch. Langes Sitzen ist wohl eine Herausforderung, aber keineswegs zwangsläufig schädigend. Erst der falsche Selbstgebrauch - wenn der Kopf zurück- und eingezogen und die Wirbelsäule verkürzt und gestaucht werden -, macht Sitzen und erst recht langes Sitzen zu einem Auslöser für Schädigungen jeglicher Art.

Aber eigentlich beginnen die Schwierigkeiten schon etwas früher mit dem Sich-Hinsetzen. Schon an dieser Stelle kommt es bei fast allen Zivilisationsmenschen heutzutage zu einem Eingriff in die primäre Kontrolle von Kopf, Hals und Rücken. F. M. Alexander schreibt in Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert, der deutschen Erstübersetzung von MAN'S SUPREME INHERITANCE (BooksonDemand, 2018) folgendes: "Nur wenige Menschen haben überhaupt eine richtige Vorstellung von den Mitteln-und-Wegen für das Sich-Hinsetzen und das Sitzen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie die einzelnen Teile, die an diesen Handlungen beteiligt sind, richtig gebraucht werden, obwohl wir uns unzählige Male am Tag hinsetzen und wieder aufstehen. Dabei könnten diese Tätigkeiten mit einer so offensichtlichen Leichtigkeit ausgeführt werden. (....) In nahezu allen Fällen kommt es zu einer unangemessenen Zunahme der Muskelspannung von Rumpf und Beinen. In vielen Fällen werden sogar die Arme eingesetzt. Die in der Regel auffälligste Handlung ist jedoch die Veränderung der Kopfstellung: Er wird zurückgeworfen. Gleichzeitig versteift sich der Hals und wird verkürzt." Man muss es in aller Deutlichkeit so sagen: Unter den gegenwärtigen Zivilisationsbedingungen müssen das Sitzen und das Sich-Hinsetzen neu gelernt werden!

In der Tat ist das "Hinsetzen auf einen Stuhl und das Aufstehen daraus" eines der Verfahren, die in der Alexandertechnik eingesetzt werden, um diese Technik zu vermitteln. Das Verfahren ist bestens dazu geeignet, den Schüler zur Hemmung seiner falschen Vorstellungen vom Sich-Hinsetzen und seines falschen Verhaltens dabei zu veranlassen, ihn mit den entsprechenden Selbstbefehlen vertraut zu machen, und seine kinästhetische Wahrnehmung zu entwickeln, wenn der Lehrer ihn durch die Bewegungen des Aufstehens, Sitzens und des Sich-Setzens leitet. Am Ende des Lernprozesses wird der Schüler gelernt haben, dass die Befehle, die das Sich-Setzen anleiten und begleiten solange Bestand haben, bis andere Befehle - zum Aufstehen z. B.- erteilt werden. Dies hat zur Folge, dass der Sitzende nicht auf den Hosenboden fällt, wenn ihm die Sitzfläche weggezogen würde. Wenn ein solcher Gebrauch beim Sitzen erst einmal etabliert worden ist, werden das Lümmeln auf dem Sessel oder Sofa, das Fläzen auf einem Stuhl und all die anderen hässlichen und schädlichen Verhaltensweisen beim Sitzen der Vergangenheit angehören.

Bewegungsmangel ist der andere gesundheitliche Risikofaktor, den der DKV-Report angespricht. Die körperlichen Aktivitäten von weit mehr als der Hälfte der Bevölkerung (57 %) genügen nicht mehr den Mindestanforderungen. Diese Tatsache ist vielleicht gar nicht einmal so negativ, wie es auf den ersten Blick erscheint. wenn man bedenkt, dass bei jeglicher Bewegung der schlechte Selbstgebrauch zum Tragen kommt. Weil dieser falsche Selbstgebrauch bei der Bewegung erhebliche, gesundheitliche Risiken für den gesamten Organismus in sich birgt, ist es vielleicht zunächst gar nicht so unklug, seine Bewegungszeit solange eher zu reduzieren, bis ein guter Gebrauch wiederhergestellt ist.

Nur muss ein solches Verhalten Konsequenzen für die Ernährung haben: Ein geringerer Energieverbrauch durch weniger Bewegung bedarf einer geringeren Energiezufuhr durch Nahrung. Wenn sich Energiezufuhr und Energieverbrauch aber nicht die Waage halten, kommt es zu den Fehlentwicklungen, die jeder sehen kann, der mit offenen Augen durch die Straßen unserer Städte geht. Für den Zivilisationsmenschen ist Essen mehr und mehr zu einer bloßen Gewohnheit, zu einem Zeitvertreib geworden und dient nicht mehr so sehr der Bekämpfung des Hungers. Wirklichen Hunger kennen wir in dieser Konsumgesellschaft weitgehend nicht mehr.

Ich will das Thema an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Es wird sich demnächst bestimmt eine Gelegenheit bieten, die Nahrungsaufnahme des heutigen Menschen unter dem Gesichtspunkt der Alexandertechnik genauer unter die Lupe zu nehmen.

Aber auf diesen Punkt möchte ich noch kurz eingehen: Der DKV-Report spricht davon, dass nur noch knapp 10 % der deutschen Bevölkerung ein gesundes Leben führt, wenn man die Bereiche körperliche Aktivität, Ernährung, Rauchen, Alkohol, Umgang mit Stress zu Grunde legt. Wenn man den hier aufgezählten Gesundheitskriterien noch das Kriterium "Gebrauch" hinzufügte, blieben von diesen zehn Prozentpunkten tatsächlich nicht mehr viele übrig. 61% der Befragten stufen jedoch ihren Gesundheitszustand rein subjektiv als gut oder sogar sehr gut ein.

Wie ist diese Diskrepanz zu erklären? Eine wesentliche Rolle spielt an dieser Stelle wohl, dass die Menschen ihre Probleme gar nicht wahrnehmen, sie gar nicht wahrnehmen können, weil ihre Wahrnehmungssysteme mehr oder weniger geschädigt sind. So sind die Brille und das Hörgerät dermaßen weitverbreitet, dass sie fast schon zum modischen Outfit gehören. Insbesondere aber ist seit dem Beginn der Zivilisation die Fähigkeit zur kinästhetischen Wahrnehmung in seine Einzelteile zerlegt worden.

Und dann begehen die Menschen den verständlichen, aber gravierenden Fehler, sich mit dem Durchschnitt der Bevölkerung zu vergleichen und nicht mit den Gesunden. "Im Vergleich mit den anderen gehe es ihnen doch gut", ist eine Äußerung, die nicht selten zu hören ist. Die eigenen Probleme seien im Vergleich dazu wirklich nicht der Rede wert. Es gebe ja Tabletten, um die Schmerzen zu bekämpfen. Und wenn alle Stricke reißen, legt man sich unter des Messer, in der Hoffnung, mit dem Skalpell sei das Problem ein für alle Mal zu beseitigen. Weit gefehlt! Das grundsätzliche Problem sucht sich nach der Operation einen anderen Weg, um auf sich aufmerksam zu machen.

Ich habe den heutigen Blogeintrag mit Versen von Hans-Dieter Hüsch aus "Hagenbuch und die Körperertüchtigung" eingeleitet und damit will ich ihn, liebe Marie, auch beschließen:

Hagenbuch hat jetzt zugegeben,

dass er jeder sportlichen Tätigkeit, sowie jeder Leibeserziehung

und jeder sogenannnten Körperertüchtigung

strikt aus dem Weg gehe

und dass seine einzige wenn überhaupt sportliche Betätigung

in ausgedehnten Spaziergängen zu sehen sei.

Bis bald

Dein Großvater

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