Im Brennglas der Alexandertechnik: Angst

Liebe Marie,

"Angst ist die Flamme unserer Zeit, und sie wird reichlich geschürt", singt schon Konstantin Wecker vor Jahrzehnten und diese Liedzeile ist heute so aktuell wie damals. Zehn Millionen Menschen in Deutschland litten gegenwärtig unter Angststörungen, so eine Studie. Drei Viertel aller Deutschen hätten z. B. Angst vor Terror und Anschlägen. Panikattacken, Angstphobien sind nichts Außergewöhnliches mehr.

F. M. Alexander fasst all diese Ängste zusammen, wenn er von der Angst vor dem Unbekannten spricht. Wenn man sich nun die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserer Zivilisation anschaut, und sieht, wie rasend schnell sie sich verändern und so unablässig Neues und Unbekanntes hervorbringen, und wenn man sich ansieht, wie die Menschen durch die Bank weg, mit nur wenigen Ausnahmen, schlecht bis sehr schlecht koordiniert sind, kann man sich gut vorstellen, dass Angst zu einem allgemeinen Kennzeichen dieser Gesellschaft geworden ist.

In meiner Tageszeitung wird nun versucht, Erklärungen für dieses Phänomen der Angst zu finden. Aber helfen die Erklärungsversuche demjenigen, der diesen Ängsten ausgesetzt ist, wirklich weiter? Ist es ein Trost zu wissen, dass man im Falle von Terrorangst nicht alleine steht, dass diese Angst sozial akzeptiert ist? Ist es eine Hilfe, wenn einem gesagt wird, dass Angst zumindest ein Leben ordnet, das unordentlich geworden ist, weil es so viele Wahlmöglichkeiten lässt und weil zu jeder Zeit immer alles möglich zu sein scheint?

Die Alexandertechnik zeigt nun den Weg auf, wie man der Angst vor dem Unbekannten und dem Neuen entkommen kann: Der Mensch braucht eine "Einsicht in die Funktionsweise seines Selbst, um zu lernen, sein Verhalten zu kontrollieren und ggf. zu verändern, so zu kontrollieren oder zu verändern, dass es in seine Umwelt hineinpasst, unabhängig davon, welcher Stimulus die Reaktion herausfordert". Dies schreibt F. M. Alexander in seinem Vorwort zur Neuauflage von "Ein Vermächtnis der Evolution an die Menschheit von unschätzbarem Wert", BooksonDemand, 2018, der Erstübersetzung ins Deutsche von MAN'S SUPREME INHERITANCE Und in "Bewusste Kontrolle beim Auf- und Umbau des Individuums" (BoD, 2018) heißt es: "Jegliche geistige Aktivität (Angst ist eine solche Aktivität) ist ein Prozess, der von unserem geistig-körperlichen Zustand zu dem Zeitpunkt gelenkt wird, an dem der entsprechende Stimulus von unserem Gehirn empfangen worden ist. Aus dieser Tatsache wird leicht ersichtlich, dass die Ursache für die unbegründete Angst des Patienten, ganz gleich welcher Art, im Zustand seiner geistig-körperlichen Funktionen zu suchen ist."

Die geistig-körperlichen Funktionen sind also auf Vordermann zu bringen. Das Instrumentarium dafür stellt die Alexandertechnik bereit. Die sinnliche Wahrnehmung des Angstpatienten muss zuverlässig gemacht werden; er muss lernen, nicht länger in das primäre Verhältnis von Kopf, Hals und Rücken einzugreifen und ihm muss beigebracht werden, seine verlorengegangene Fähigkeit zur Hemmung seiner Reaktionen wiederzuerlangen. Mit einer intakten sinnlichen Wahrnehmung, mit einer wiedergewonnnenen Fähigkeit zur Reaktionshemmung und mit einer bewussten Steuerung und Kontrolle des primären Verhältnisses von Kopf, Hals und Rücken wird der angstbeladene Mensch in der Lage sein, die Fakten der gegebenen Situation in aller Ruhe zu analysieren, um dann die entsprechenden Maßnahmen ergreifen zu können.

Wenn Du, liebe Marie, die Tagesschau im Fernsehen siehst, so ist sie tagtäglich mit Nachrichten gefüllt, die durchaus geeignet sind, die "Ängste der Menschen zu schüren" oder ihre Angstreflexe zu aktivieren, wie F. M. Alexander es ausgedrückt haben würde. Ein Mensch, der sein Handeln über seine Primärkontrolle so steuert und kontrolliert, dass das natürliche Verhältniss von Kopf, Hals und Rücken ungestört bleibt, ist auch gefeit gegen eine solche reißerische Art und Weise der Berichtserstattung.

Bis bald

Dein Großvater