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Im Brennglas der Alexandertechnik: Psychische Erkrankungen


Der Baum als Symbol der Alexandertechnik

Liebe Marie,

jeder 6. Student sei psychisch krank, so war es dieser Tage auf der ersten Seite meiner Tageszeitung zu lesen. Grund sei der hohe Leistungsdruck!

Ich glaube, dass diese Erklärung nicht wirklich stichhaltig ist. Niemand wollte von einem Chirurgen operiert werden, der nicht weiß, wie ein Skalpell zu führen ist. Und wer wollte von einem Rechtsanwalt vertreten werden, der die Gesetze nur in Ansätzen kennt? Von einem Brückenbauingenieur erwarten wir, das seine Brückenkonstruktionen tragfähig und lange haltbar sind. Unsere Kinder haben die bestausgebildeten Lehrer verdient. Und ein Apotheker, der es mit den Mischungsverhältnissen der Drogen nicht allzu genau nimmt, ist für die Allgemeinheit eine Gefahr. Wir können also sagen, dass die Anforderungen, die an einen akdemischen Beruf zu stellen sind, klar umrissen sind. Es ist wahrlich nicht sinnvoll, an diesen Anforderungen Abstriche zu machen.

Ich glaube auch nicht, dass der Leistungsdruck im Studium das ist, was die Studierenden im ursächlichen Sinne krank macht. Aus Sicht der Alexandertechnik liegt vieles bei den Betroffenen selbst im Argen. Um mit den Problemen fertig zu werden, setzt der Student auf die falschen Methoden. Sich anzustrengen, sich zu konzentrieren oder aus dem Feld zu gehen, verstärken die Probleme eher noch, als dass sie sie lösen.

Streng Dich an! Das haben schon die Schüler beständig von ihren Eltern und Lehrern zu hören bekommen. Es ist dermaßen verinnerlicht, dass Studenten gerne davon Gebrauch machen. Nur ist "sich anstrengen" aus Sicht der Alexandertechnik vollkommen kontraproduktiv. Wer sich anstrengt, ist vor allem auf sein Ziel fixiert, die Mittel-und-Wege jedoch bleiben weitgehend unberückichtigt. Zur Erreichung des jeweiligen Zieles werden Muskeln übermäßig angespannt. Man sieht auch nicht, dass gerade der Einsatz der Strength es verhindert, dass man leicht ans Ziel gelangt. Durch Anstrengung werden Muskeln verkürzt, Gelenke in ihrer freien Beweglichkeit eingeschränkt, die Atmung reduziert. Zeitweise wird das Atmen sogar ganz eingestellt. Die Sauerstoffversorgung des Gehirns wird heruntergefahren. Der Organismus insgesamt wird in seinen Möglichkeiten beschränkt. Man bleibt in sich selbst gefangen, wo es doch darum geht, aus sich herauszugehen. F. M. Alexander hatte herausgefunden, "dass es für alle Aktivitäten als Basis notwendig ist, seine volle Länge in der Statur auszunutzen und sich zu seiner vollen Größe aufzurichten." (Kommentar der BBC zur Alexandertechnik)

Wer im Wörterbuch den Begriff "sich konzentrieren" nachschlägt, findet folgende Definition: Sich geistig sammeln, alle Aufmerksamkeit auf einen Gedanken, auf ein Ziel lenken. Konzentration ist also, wie Anstrengung auch, zielorientiert. Die MIttel-und-Wege werden eher weniger bedacht, was aus Sicht der Alexandertechnik von vornherein ein Mangel ist. Zusätzlich zeigen sich bei jemandem, der sich konzentriert, auffällige geistig-körperliche Verhaltensweisen: Die Augen sind angespannt, teilweise sind sie verdreht. Man findet den Ausdruck des Starrens, was eine Form der Selbsthypnose ist. Die Angstreflexe sind übermäßig errregt. Der gesamte Gesichtsausdruck ist angespannnt. Und auch der Rumpf und die Gliedmaßen stehen unter einer unangebrachten und schädlichen Spannung.

Dass Konzentrationsfähigkeit in unserer Gesellschaft einen so hohen Stellenwert hat, liegt auch an der irrigen Annnahme, der Geist sei grundsätzlich nicht in der Lage, auf mehr als nur einen Punkt gleichzeitig Einfluss zu nehmen. Diese Annahme beruht jedoch auf einer Täuschung. Sein ganzes Leben lang beeinflusst der Mensch nämlich unterbewusst Verschiedenes gleichzeitig, andernfalls könnte er die einfachsten Dinge gar nicht erledigen. Was nun das Studium betrifft, verhindert Konzentration (Fokussierung ist nur eine anderer Begriff für den gleiche Sachverhalt.) geradezu den Studienerfolg, kommt es doch bei einer Vorlesung darauf an, die dargebotenen Gedankengänge miteinander und mit bereits Erworbenem zu verknüpfen. Durch Konzentration werden Zusammenhänge aber eher verschüttet, als dass sie hergestellt werden.

So kann man sich leicht vorstellen, dass Studenten allzu gerne bereit sind, "aus dem Feld zu gehen", wie es die Psychologie zu meiner Zeit ausgedrückt hat, wenn sie einsehen müssen, dass sie kein Packende finden, obwohl sie sich doch so angestrengt und konzentriert haben. "Aus dem Feld gehen" oder "mit den Gedanken abschweifen", wie es in der Alexandertechnik genannt wird, ist ein Verhalten, dass bei den jungen Menschen heutzutage gang und gäbe ist, und auch Studenten bilden hier keine Ausnahme. Wir brauchen nur einmal einen Blick in eine beliebige Vorlesung an einer beliebigen Universität zu werfen. Wir werden kaum einen Studenten, eine Studentin finden, die nicht das Handy vor sich auf dem Tisch liegen haben. Schon mit der Deponierung ist das Abschweifen der Gedanken eigentlich bereits vollzogen. Man ist von vornherein nicht bei dem Thema. Und man redet sich auch gerne ein, dass es gar nicht nötig ist, den Ausführungen des Professors jetzt zu folgen, gibt es doch ein Hand-out für die Studenten oder eine Aufzeichnung im Intranet der Universität. So kann der Stoff später erarbeitet werden. Nur später passt gerade nicht. Schnell sammelt sich so viel Aufzuarbeitendes an, dass es in diesem Semester nicht mehr zu bewältigen ist. Das Semester muss wiederholt werden. Im Zweifel wird das Studium ganz abgebrochen.

Liebe Marie, ich könnte Dir jetzt noch zur Abrundung des Themas von dem Studenten erzählen, der nacheinander drei Studiengänge abgebrochen hat und heute im Callcenter arbeitet. Ich will Dir stattdessen von einer Erfolgsgeschichte berichten: Christina hat ein durchschnittliches Abitur an der Gesamtschule gemacht. Sie ist dann mit der besten Freundin ohne Ziel und Plan nach Spanien gegangen. Irgendwo im spanischen Niemandsland haben die beiden ein verlassenes Haus ohne Stromanschluss, ohne Wasserleitung und ohne ein wasserdichtes Dach in Besitz genommen, um es bewohnbar zu machen. Nach zwei Jahren mussten sie einsehen, dass sie daran gescheitert waren. Sie kehrten in ihre Heimat zurück, viele Erfahrungen reicher. Christina hat dann hier und da eine Zeit lang gejobt. MIt 27 wurde ihr klar, dass es nun an der Zeit war, sich Gedanken um ihre berufliche Zukunft zu machen. Sie wollte Lehrerin in den Fächern Kunst und Latein werden, die zu der Zeit Mangelfächer waren. Nur gab es dabei ein winziges Problem: Sie hatte niemals Latein gelernt, musste also das Große Latinum nachmachen, um überhaupt zum Studium zugelassen zu werden. Es hat Jahre gedauert, weil sie nebenbei auch noch für ihren Lebensunterhalt sorgen musste, aber sie hat es letztendlich geschafft. Und auch das für den Studienabschluss notwendige Graecum hat sie ohne große Probleme gemeistert.

Christina - ich habe ihren Namen geändert - hat bewusste Entscheidungen getroffen und ist nicht blind auf ihr Ziel losgestürmt, sondern hat sich die Zeit genommen, die für sie angemessen war, und so die Mittel-und-Wege bedacht. Seit etlichen Jahren unterichtet sie jetzt schon Latein und Kunst an einem Schwerter Gymnasium, hat inzwischen eine kleine Familie und ist sogar noch verbeamtet worden. Das hört sich wie ein Märchen an. Das Happy End kann ich allerdings nicht liefern, denn ich weiß nicht, wie es ihr heute geht.

Bis bald

Dein Großvater

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