top of page
Empfohlene Einträge

Im Brennglas der Alexandertechnik: Stottern


Der Baum als Symbol der Alexandertechnik

Liebe Marie,

man geht davon aus, dass ein Prozent aller Deutschen vom Stottern betroffen sind. Das sind derzeit immerhin mehr als 800.000 Menschen. Die meisten von ihnen fangen im Alter zwischen zwei und fünf Jahren damit an, so sagen die Experten. Als Ursache muss ein alter Bekannter herhalten: die genetische Veranlagung. Früher oder später werde dann das Stottern ausgelöst. Nicht immer sei eine sofortige Therapie notwendig. Wenn Kinder aber anfangen, Grimassen zu schneiden, weil sie sich anstrengen, richtig zu sprechen, wenn sie nur noch flüstern, wenn sie sich zurückziehen, sich schämen oder Verärgerung zeigen, sei der Zeitpunkt dafür gekommen, um Hilfe nachzusuchen.

Es gebe verschiedene Therapieansätze, so A. Wolff von Gutenberg in meiner Tageszeitung. In der einen Therapie soll das Sprechmuster verändert werden, in der anderen soll der Betroffene lernen, kontrolliert zu stottern, ja, es gibt sogar Therapieformen, die auf Computerunterstützung setzen. Und auch eine reine Onlineform wird angeboten. Rückschläge gebe es bei allen immer wieder. Wer es bis zur Pubertät nicht schaffe, flüssig zu sprechen, müsse damit rechnen, sein Leben lang zu stottern. Soweit der Auszug aus dem Artikel der Westfälischen Rundschau vom 12. Februar dieses Jahres.

F. M. Alexander beschreibt den Fall eines Stotterers in "Der Gebrauch des Selbst", der Überstetzung ins Deutsche von THE USE OF THE SELF. Daraus zitiere ich nun einen Abschnitt.

"Gewohnheitsmäßig beobachte ich bei einem neuen Schüler sehr genau, wie er geht, wenn er zu mir hereinkommt, und wie er sich hinstetzt. In diesem Fall ist mir sofort aufgefallen, dass die Art seines allgemeinen Gebrauchs sehr viel schädlicher war als es der Normalfall ist. Ich bemerkte auch, dass er seine Lippen und seine Zunge beim Sprechen falsch gebrauchte. Zudem stellte ich bestimmte Defekte im Gebrauch seines Kopfes und seines Halses fest. Dazu gehörte, dass er beim Sprechen seinen Kehlkopf über die Maßen herunterdrückte und zu sehr die Gesichts- und Halsmuskulatur anspannte. Ich klärte ihn darüber auf, dass sein Stottern nicht ein isoliertes Symptom eines falschen Gebrauchs seiner Sprechwerkzeuge allein ist, sondern dass sein Stottern mit einer ganzen Reihe anderer Symptome falschen Gebrauchs und mit Fehlfunktionen in anderen Teilen seines Organismus im Zusammenhang stehen."

Statistik und Genetik helfen dem Betroffenen wohl kaum weiter. Sie machen ihn vielmehr zum Opfer. Pech gehabt, wenn er einer der 800.000 ist oder wenn er diesen Gendefekt hat! Die Alexandertechnik sieht die Ursache für das Stottern im Gebrauch des Einzelnen. Und weil der Gebrauch durch entsprechende Maßnahmen vom Einzelnen zu verändern ist, eröffnet sich für ihn ein neuer Handlungsspielraum. Er hat die Freiheit, mit einem Alxandertechniklehrer den Weg der Veränderung zu gehen, um seinen Organismus völlig neu zu koordinieren. Mit einer solchen Neukoordination wird dann tatsächlich auch sein Stottern verschwinden.

Therapieformen, die das Stottern direkt behandeln wollen, berücksichtigen nicht die individuellen Eigenarten, die letztendlich zum Stottern geführt haben, den allgemeinen schädlichen Gebrauch, den falschen Gebrauch von Zunge und Lippen, die fehlende Kontrolle von Kopf, Hals und Rücken, die verspannten Gesichts- und Halsmuskeln und, und, und. Mehr noch, der Therapeut hat keine Kenntnis davon, dass all dies Probleme sein können und er nimmt sie auch überhaupt nicht wahr.

Die von A. Wolff von Gutenberg entwickelte Kasseler Stottertherapie setzt Sprechübungen ein, die ein Betroffener von zu Hause aus am Computer durchführen soll. Ganz gleich, wie die Übungsanweisungen vermittelt werden, ob über das Wort, ein Bild, eine Bilderreihe oder eben über das Medium Internet, immer stellt sich dieses Problem: Geübt wird mit dem einzigen Instrument, das dem Menschen dabei zur Verfügung steht: Dem eigenen geistig-körperlichen Organismus. Dieser geistig-körperliche Organismus ist nun aber offensichtlich mit Fehlern behaftet. So übt der Betroffene neben der vorgegebenen Bewegungsabfolge immer auch den fehlerhaften Gebrauch seines Organismus ein. Und das kennst Du, liebe Marie, vom Fahrrad fahren, wenn z. B. das Vorderrad an der Gabel schleift: Man kann zwar damit weiter fahren, es schadet aber auf jeden Fall dem Fahrradmantel, so dass nach einer gewissen Zeit ein neuer fällig ist.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der beim Einsatz von Bildmaterial problematisch ist. Ein Mensch, dessen sinnliche Wahrnehmung fehlerhaft ist, imitiert das, was für ihn auffällig an der visuellen Darstellung ist. Die wirklich entscheidenden Faktoren bleiben dahingegen weitgehend im Verborgenen, weil sie gut im Gesamtbewegungsablauf eingebettet sind. So übersteigt sehr oft der Schaden, den Übung anrichten kann, den möglichen Nutzen (eingeschliffene Bewegungsabläufe, gesteigerte Bewegungsgeschwindigkeit, erhöhtes Kraftniveau u. a. m.).

Zum Schluss stelle ich Dir, Marie, zwei Zitate zur Auswahl. Das erste ist dem Zeitungsartikel entnommen und stammt von der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe: "Wer es bis zur Pubertät nicht schafft, flüssig zu sprechen, muss damit rechnen, ein Leben lang zu stottern." Das andere Zitat stammt aus F. M. Alexanders "Der Gebrauch des Selbst" und ist einem Brief entnommen, den ein Schüler ihm geschrieben hat und dem er geholfen hat, sein Stottern einzudämmen: "(....)Die Möglichkeit, erneut beträchtliche Fortschritte zu machen, wenn ich in diesem Jahr wieder bei Ihnen Unterricht nehme, lässt mein Herz höher schlagen. Ich bin so optimistisch zu glauben, dass ich tatsächlich reif bin für einige wirklich neue Erfahrungen.(...) Ich bin jetzt an dem Punkt angelangt, dass ich spüre, wie sich meine Kiefer entspannen, wenn mein Rücken arbeitet. Ich glaube wirklich, dass ich meine Kiefermuskulatur benutzt habe, um mich aufrecht zu halten. Und ich beginne auch wahrzunehmen, wie wenig ich Lippen und Zunge beim Sprechen eingesetzt habe. Tatsächlich habe ich sie wohl kaum benutzt. Es ist diese starke Verbesserung meiner sinnlichen Wahrnehmung, die mir für die Zukunft so große Hoffnung macht.

Marie, Du kannst selbst entscheiden, welches der beiden Konzepte mehr Hoffnung für einen Betroffenen verspricht.

Bis bald

Dein Großvater

Aktuelle Einträge
Archiv
Schlagwörter
Folgen Sie uns!
  • Facebook Basic Square
  • Twitter Basic Square
  • Google+ Basic Square
bottom of page